Aloisius öffnete die Augen. Das grelle Weiß der über ihm stehenden Sonne blendete ihn. Sein ganzer Körper schmerzte. Seine Hand lag noch auf seiner Brust. Er konnte deutlich seinen Herzschlag spüren. Gleichmäßig und ruhig, mit einer Kraft, die ihn erschaudern ließ. Er fühlte Erleichterung beim dem Gedanken, nicht tot zu sein.
Mit geschlossenen Augen hörte er in sich hinein. Atmete, tief, immer und immer wieder. Dabei ging ein Beben durch seinen Körper.
Er lebte. Und wie.
Eine Welle der Glückseligkeit durchflutete ihn. Er sah sich als Kind mit dem Kreisel im Hof spielen; als Jugendlicher des Nachts zu seiner Liebsten eilen, um sie an ihrem geheimen Ort zu treffen; als Vater die gerade geborene Tochter in den Armen wiegend. Bilder um Bilder folgten einander.
Für einen Augenblick dachte er, nun sei wirklich sein Ende gekommen und war bereit. Ruhe und Frieden erfüllten ihn. Sein Körper begann zu schweben, erhob sich über all das, was seine Existenz bislang ausgemacht hatte.
Aloisius spürte eine tiefe Verbundenheit und Einheit mit seinem Körper. Sie überwältigte ihn. Es war sein Körper, so einzigartig und einmalig wie alles an ihm. Alle achtlosen Gefühle vergangener Tage seinem Körper gegenüber, seiner äußeren Hülle, wie er sie stets abschätzig genannt hatte und nie ausgelassen hatte, sie als etwas Lästiges zu betrachten, all dies blieb am Boden.
›Körper und Seele sind eine untrennbare Einheit‹, dachte er, während jeder Atemzug ihn höher und höher steigen ließ.
Sein Körper begann, sich um die eigene Achse zu drehen, schwebte schwerlos dahin. Zum ersten Mal in seinem Leben, empfand er fast zärtliche Gefühle für seine körperliche Hülle. War froh und dankbar, dass seine Seele sich in ihr manifestiert hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, von einem anderen Leib umhüllt zu sein.
Gleichzeitig spürte er etwas Anderes. Er wollte leben. Den in ihm angelegten Samen Tag um Tag neu aufgehen lassen.
›Es gibt etwas Heiles, von außen nicht Antastbares, etwas was bleibt durch alle Wirrungen des Lebens … und das bin ich. Dies zu lieben und zu achten, darauf kommt es an. Nur dann werde ich alles, was mich umgibt, all den Menschen mit Liebe und Achtung begegnen können.‹
Als er wieder die Augen öffnete, schimmerte die Sonne durch eine matte Wolkenschicht licht hindurch. Aloisius erhob sich und spürte, wie Kraft zurück in seine Glieder gekehrt war. Er klopfte den Staub von seiner Kleidung und setzte seinen Weg fort.
Intuitiv schritt er voran. Etwas in ihm erfüllte ihn mit Gelassenheit. Über kurz oder lang würde er wieder auf den Juan treffen. Davon war er überzeugt. Auch wenn er aus seiner Sichtweite entschwunden war, blieb er mit ihm auf geheimnisvolle Weise verbunden. Er spürte seine Gegenwart. Offensichtlich, dies wurde im mit einem Mal bewusst, gab es Dinge, die sich jenseits von Raum und Zeit abspielten. In Gedanken sah er ihn irgendwo auf ihn wartend, Juan mit einem milden Lächeln und einem aufmunternden Nicken zum Weitergehen.
Ein einsamer Aasgeier kreiste über ihm. Aloisius hob die Hand zum Gruß.
»Mach dir keine falschen Hoffnungen, ich lebe noch, und wie«, rief er ihm entgegen.
Dieser folgte ihm unbeirrt und war immer noch über ihm, als er am Horizont eine Erhebung ausmachen konnte und die ersten Anzeichen von wiederkehrender Vegetation.
Plötzlich stürzte der Aasgeier, als habe ihn der Schuss einer Kugel erfasst, vom Himmel herab. Er landete wenige Schritte von ihm entfernt und wirbelte eine Staubwolke auf. Erst jetzt erkannte er, dass es sich um einen Kondor handelte.
Der in manchen Ländern als Wappentier verehrte Vogel war für die Einheimischen in alter Zeit ein Bote der Götter. Er war es, der die Bitten der Menschen in himmlische Höhen brachte. Klugheit und Weisheit sagte man ihm nach. Einem heute kaum noch vorstellbaren Brauch zufolge, verspeiste man sogar seine Augen, um die eigene Sehkraft zu steigern. Für die wenige umherwandernde Schamanen war die Kralle eines Kondors heute noch neben einem Jaguarzahn wichtiges Utensil bei ihren Heilungszeremonien.
Einer alten Legende nach, bedeutet das Erscheinen eines Kondors den Tod einer untreuen Frau. Die vermeintlich untreue Frau wurde in Begleitung des gesamten Dorfes auf einen hohen Berg gebracht, wo man tagelang auf das Erscheinen des Kondors wartete. Erst wenn nach Ablauf von sieben Tagen, der Kondor nicht erschienen war, galt die Unschuld der Frau für erwiesen.
Aloisius erinnerte sich an ein altes Märchen vom Kondor und dem Mädchen mit den blutigen Füßen. Seine Mutter hatte es ihm wochenlang jeden Abend vorlesen müssen, und es gehörte seither zu seinen Lieblingsmärchen.
Es war einmal ein Mädchen, das im Hochland die Lamas hütete. Weil es keine Schuhe hatte und barfuß über den felsigen Grund wanderte, lief es sich die Füße blutig. Da erschien dem Mädchen ein Fremder, der Mitleid mit ihr hatte. Als die Gefühle füreinander entfachten, verwandelte dieser sich in einen Kondor und nahm sie mit in seinen Horst. Das Mädchen kehrte am Abend nicht zurück, was die Eltern in großer Sorge versetzte. In den folgenden Tagen suchten sie vergeblich nach ihr. Das Einzige was sie fanden, war die Blutspur, die sich hinauf zu der Stelle zog, an der sie die Lamaherde wiederfanden. Der Kondor versorgte derweil das Mädchen liebevoll mit Speisen. Doch das Mädchen war traurig, getrennt von ihrer Familie zu sein. Einem vorbeifliegenden Kolibri vertraute sie ihren Kummer an und bat ihn, ihre Eltern zu benachrichtigen. Der Vater brach gleich am nächsten Morgen mit einigen Männern auf. Auf dem Weg zum Horst fing er zwei Kröten. Im Horst befreite er seine Tochter in einem Augenblick, da der Kondor gerade wieder auf Nahrungssuche war, und legte die Kröten in den Horst. Als der Kondor zurückkehrte und den verwaisten Horst vorfand, wies der Kolibri zu berichten, ein Unglück sei über das Land gekommen und habe Frau und Kind in Kröten verwandelt. Der Kondor war untröstlich, als er tatsächlich die zwei Kröten bei seiner Rückkehr im Horst sah. Anstatt in der folgenden Zeit besser für seine Tochter zu sorgen, schickte der Vater sie nach einiger Zeit wieder barfuß mit der Lamaherde los. Alles kam wie beim ersten Mal. Sie verletzte sich die Füße bis sie bluteten, der Kondor erschien ein weiteres Mal und nahm sie wieder mit in seinen Horst. Als die Tochter am Abend wieder nicht nach Hause kam, wusste der Vater sofort, wo er sie zu suchen habe und brach sogleich mit allen starken Männern des Dorfes auf. Am nächsten Tag gelangten sie zum Horst und hielten inne. Die Tochter war nicht mehr zu befreien. Ihr waren Flügel gewachsen.
Aloisius muss beim Gedanken an das Märchen innerlich schmunzeln.
»Mir geht es wirklich gut«, erhob er seine Stimme.
»Begleite mich ruhig, aber mach dir keine Sorgen um mich!«
Darauf erhob sich der Kondor mit seinen riesigen Schwingen und war schon bald in weite Höhen entschwunden.
Aloisius bückte sich, hob eine grauweiße flauschige Feder auf und steckte sie in seine Hosentasche.