Ich lausche dem Feuer des Herzens VIII

OhneTitel

In seinem Blickfeld tauchte der Alte unerwartet zwischen den Beinen des Esels sitzend auf. Aloisius hatte jeden Gedanken an ihn vergessen, war einfach weitergelaufen, fast in Trance.
Als Aloisius sich näherte und genauer hinsah, konnte er erkennen, wie der Alte in sich gesunken an die Hinterbeine des Esels gelehnt auf dem Boden kauerte. ›Was für eine eigentümliche Einheit von Mensch und Tier‹, dachte er und verlangsamte seinen Schritt. Mit Abstand ließ er dieses Bild auf sich wirken. Sonderbar, er hatte noch nie Dergleichen gesehen. Er war angerührt von so viel Vertrautheit.
Der Esel wandte den Blick zu ihm, sah ihn direkt an. Ihm war, als wolle er ihm andeuten:
›Komm, setz dich, hier ist noch Platz für dich!‹
›Unsinn‹, schalt Aloisius sich selbst, während er sich behutsam näherte.
›Mit mir scheint die Phantasie durchzugehen.‹
Er legte die Arme um den Hals des Esels und wunderte sich dabei über seine vertraute Geste. Die struppige Mähne kratze an seiner Wange. Aloisius konnte den Duft des Tieres einatmen, einen intensiven und für ihn fremden Geruch. Der Körper des Esels war erhitzt und feucht. Mit einer Hand klopfte er sacht auf seine Flanke und gab ihm ohne Worte zu verstehen: ›Du bist ein guter Begleiter, treu und zuverlässig. Selbst in gefährlichen Situationen bleibst du bei uns und zeigst uns den Weg.‹

Irgendwann richtete sich der Alte auf, sah Aloisius, nickte ihm zu und sogleich nahmen beide den Weg wieder auf.
An Essen war offensichtlich nicht zu denken. Der Alte hatte ihm nur kurz die Trinkflasche gereicht. Aloisius knurrte der Magen und er war davon ausgegangen, dass der Alte die Zeit für das Mittagsmahl im Blick hatte. Der Sonne nach zu urteilen, war der Nachmittag bereits angebrochen. Sollten sich beide heute im Entzug von Essen üben.
Die Unbekümmertheit des Alten hatte manchmal etwas Beängstigendes. Dann kamen Zweifel auf, ob er die Situation wirklich im Griff hatte.
Willig folgte Aloisius dem Alten und hoffte auf die gewohnte Ablenkung durch die Eindrücke, die er bald schon wieder in sich aufsaugen konnte.
›Nicht vom Brot allein‹, drang eine unwirkliche Stimme zu ihm, während der Puls zwischen seinen Schläfen hämmerte. Er hätte mehr trinken müssen und sich nicht vom Alten mit einem Schluck abspeisen lassen sollen.

Aloisius hatte den Eindruck, seine Wahrnehmung würde sich mit jedem Tag verfeinern. Farben wurden intensiver, Gerüche gewannen unbekannte Spektren hinzu.
Fasziniert was Aloisius vor allem von den Bromelien. Unter widrigsten Bedingungen fristeten sie ihr Dasein, schienen mit Wenigem auszukommen. Anfangs nahm er sie nicht so recht wahr. Im Laufe der Tage entwickelte er einen gezielten Blick für diese, nach einem schwedischen Arzt benannte, immergrüne Pflanze.
Besonders angetan hatte es ihm jene Gattung, die sich überall anhaften konnte, von Ästen und Baumrinden bis zu jenen Exemplaren, die auf dem Stacheldraht einer eingezäunte Weide ihren Ort fanden. Manche Bromelie war derart winzig, dass nur der geschulte Blick sie entdecken konnte.
Aloisius blieb oft stehen und betrachtete sie von Nahem. Sie waren wahre Schmarotzer und lebten in der Hauptsache von ihrem Wirt. Ging es diesem gut, so war ihr Überleben gesichert. Gleichwohl konnten lange Dürreperioden mit wenig oder gar keinem Regen auch ihnen zum Verhängnis werden.
In gewisser Weise bewunderte er ihre Sorglosigkeit. Durch ihre Anhaftung verbanden sie sich auf Gedeih und Verderb mit ihrem Wirten. ›Eine außergewöhnliche Lebensform‹, dachte Aloisius. ›Kaum noch vorstellbar für die Gattung Mensch.‹ Bewies sie dadurch ihre niedere Existenzform oder bestand gerade darin ihre Größe? Ihre Blütenstände in ihren kräftig leuchtenden Farben waren Lebenswerke, einmalig und zogen ihn immer wieder in den Bann.
Der Alte hatte sich an seinen an der Botanik interessierten Begleiter gewöhnt, wartete und lächelte ihn verständig an, wenn er gerade mal wieder aufgeschlossen hatte.
Hatte er dabei noch etwas Anderes im Blick? Wollte er Aloisius vor allem eines vermitteln? Leben heißt zu allererst, mit dem leben, was das Leben bereit hält und nicht damit hadern. War seine kärgliche Rationierung am Mittag, diesem tieferen Zusammenhang geschuldet?
»Du bist ein Fuchs«, rief Aloisius ihm hinterher, wohl wissend, dass er ihn in diesem Augenblick nicht verstand.
Der Alte drehte sich dennoch um und nickte, als habe er jedes einzelne Wort verstanden.

Die rückwärts gewandte Hand des Alten hielt ihn, anzuhalten. Zunächst konnte Aloisius nicht erkennen, was den Alten zu solcher Vorsicht bewogen hatte. Er blieb stehen und wartete auf weitere Anweisungen.
Der Alte machte einen Schritt zur Seite und so konnte Aloisius in Sichtweite einen Bären ausmachen. Genau genommen nahm er ihn erst wahr, als er sich im Unterholz einiger Bäume aufrichtete. Er war von imposanter Statur, sicherlich so groß wie der Alte, aber deutlich kräftiger.
Langsam schlichen sie sich Meter um Meter an in heran, bis der Alte wieder stehen blieb. Sein Finger fuhr zum Mund. Der Esel trottete unbehelligt weiter.
Der Bär, der durch seine weiße Zeichnung aufwärts von der Brust bis zur Stirn, um die Augen bis zur Nasenwurzel auffiel, hatte sich gerade über ein besonders großes Exemplar einer Bromelie hergemacht. Jenseits der Paarungszeit und der Aufzucht von Jungtieren ging von ihnen nur selten Gefahr aus. Zumeist waren sie alleine unterwegs.
Der Alte wusste offensichtlich darum, hatte dennoch sicher gehen wollen. Nachdem weder Jungtiere noch ein weiterer Bär zu sehen waren, passierten sie den Bären, der seinerseits keine Notiz von den beiden Männern nahm.