Bevor die Dämmerung einsetzte, hielt der Alte in der Nähe eines vorbeirauschenden Baches an. Aloisius dachte zunächst, es sei an der Zeit, die versäumte Mittagspause nachzuholen. Der Magen hatte in der zurückliegenden Stunde so gewaltig geknurrt, dass sich der Esel wiederholt ob des für ihn offensichtlich unbekannten Geräusches umdrehte.
Als der Alte jedoch damit begann, den Esel von seiner Traglast zu befreien, schaute Aloisius ihn Alten mit weitaufgerissenen und fragenden Augen an. Der Alte lächelte beschwichtigend. Seine wortlose Geste gab ihm zu verstehen, es solle ihm einfach vertrauen. Schließlich sei er der Meister des Augenblicks, stets darauf bedacht das Richtige zum rechten Zeitpunkt zu tun.
In Erwartung, schon bald etwas Essbares zwischen die Zähne zu bekommen, wohl wissend, dass dieses Mahl wie stets durch nichts an Schlichtheit zu überbieten war, machte sich Aloisius daran, dem Alten zu helfen.Mit einer abwehrenden Handbewegung hieß dieser ihn jedoch, auf einem nahegelegenen Felsen Platz zu nehmen. Folgsam setzte er sich. Der Stein war von der Sonne des Tages immer noch angenehm erwärmt.
Aloisius ließ sich zurückfallen, nachdem er sorgsam geprüft hatte, ob der Felsen seinem verspannten Rücken ausreichend Platz offerierte. Er schloss die Augen und genoss die Wärme.
Als er die Augen wieder öffnete und sich aufrichtete, sah er den Alten auf einem anderen Felsen sitzen. ›Es ist doch gar nicht seine Art, vor einer Mahlzeit eine Pause einzulegen‹, dachte er verwundert.
Erst da erkannte er, dass der Alte etwas in beiden Händen hielt. Das rostige Messer in der einen nahm er sogleich wahr. Nur an der Bewegung, die seine Hände vollführten, konnte er erahnen, dass er in der anderen Hand einen Stein hielt. Er hatte den Alten schon einmal beim Schleifen der Messerklinge beobachtet. In Ermangelung eines Wetzsteines griff der Alte einfach zu einem Stein. Viele Steine im Hochland waren voller Mineralien, die trefflich zum Wetzen dienten und im Gegenlicht der Sonne glitzerten.
Die Hand des Alten, in der das Messer lag, vollführte kreisende Bewegungen, mal mit der Vorderseite, mal mit der Rückseite der Klinge über den Stein. Aloisius hatte große Hochachtung für jeden, der mit einem Wetzstein umzugehen wusste. Die wenigen Male, bei denen er sich darin versucht hatte, war er kläglich gescheitert. Am Ende hatte es die gestumpfte Klinge nichts mehr gemein mit dem, wozu sie bestimmt war.
Mit einem flinken und gezielten Schnitt, der ein aufgehobenes Blatt in zwei Hälften teilte, prüfte der Alte die wiedergewonnen Schärfe der Klinge. Der Rost auf der Klinge blieb vom Schleifvorgang unberührt. Er trug dazu bei, dass alle mit dem Messer zubereiteten Speisen irgendwie gleich nach Eisen schmeckten. Insgeheim hoffte Aloisius, dass die feinen Knospen seiner Zunge sich schon bald an diesen störenden Beigeschmack gewöhnt haben würden.
Nachdem der Alte das Messer bei Seite gelegt hatte, entnahm er der vor ihm liegenden Satteltasche eine Flasche und einen Becher, den er mit einem flüchtigen Wischen an seinem Hemd notdürftig vom Tagesstaub befreite.
Aloisius nahm dergleichen Verrichtungen des Alten kaum noch wahr. Die anfänglich noch aufgetauchte Frage nach der Hygiene tauchte nicht mehr am Horizont seiner Gedanken auf. Auch diese Lektion des Alten hatte er längst verinnerlicht: ›Stelle nichts in Frage, was den Lauf der Dinge nicht beeinträchtigen kann!‹
Hatten ihn früher dergleichen Unabänderlichkeiten bis an den Rand des Wahnsinns gebracht, ihn so blockiert und gequält, dass er phasenweise über Tage kaum einen anderen klaren Gedanken fassen konnte, so verspürte er nun eine Gelassenheit in sich, die ihn verwunderte und fast etwas Beängstigendes hatte, wie alles Neue, dass die letzten Tage ihm seit dem Beginn ihres Marsches unerwartet offerierten.
Aloisius fühlte sich, trotz des sehr eingeschränkten und in weiten Teilen vom Alten bestimmten Tagesrhythmus, frei. Seltsam frei, hatte er doch bislang Freiheit mit einem Sein jenseits aller Fremdbestimmung verstanden. Was der Alte ihm vorgab, glich einem starren Korsett. Einzelne klar aufeinander abgestimmte Verrichtungen folgten einander.
Alles und nichts in Frage zu stellen, immer zuerst nach dem Sinngehalt einer Handlung zu fragen, waren ihm so sehr vertraut, dass es ihm anfangs schwer viel, nicht jede Vorgabe des Alten überdenken zu müssen.
Manchmal war ihm, als sei sein ganzes Denken dabei in eine andere Wirklichkeit hinüberzuschreiten. Je mehr er dem Hang, nach Sinn zu fragen, Ursache und Wirkung auszuloten, widerstehen konnte, umso freier fühlte er sich.
›Welch ein Paradoxon!‹, sagte er sich, während der Alte ihm den gefüllten Becher entgegenhielt. Er kippte den Inhalt in einem Schluck in sich hinein, ohne darüber nachzudenken, was er zu sich nahm. Der Trunk brannte in seiner Kehle wie Feuer, wanderte wie ein betäubender Strom abwärts und löste eine kaum erträgliche Kontraktion in seinen Eingeweiden aus. Er begann zu würgen.
Noch bevor Aloisius sich erheben konnte, um sich etwas abseits zu entleeren, sprang der Alte auf, hielt in fest und goss den Becher ein zweites Mal voll. Sein starrer Blick ließ keinen Zweifel aufkommen. Schon halb benommen folgte er der unausgesprochenen Anweisung des Alten und trank den Becher erneut in einem Schluck aus. Ihm war, was würde eine brennende Fackel sein Inneres versengen.
Als der Alte den dritten und vierten Becher in ihn hineingoß, nahm er dies kaum noch wahr. Er verlor das Bewusstsein.