Ich lausche dem Feuer des Herzens XI

OhneTitel

Grell schienen Aloisius die ersten Morgenstrahlen des neunen Tages ins Gesicht und blendeten ihn. Er hielt seine Hand, jene, die gerade noch auf seinem verletzten Geschlecht geruht hatte, vor das Gesicht und kämpfte innerlich gegen das Stechen in seinem Kopf an. Er kniff die Augen zu und versuchte, dem hämmernden Pochen zu entgehen. Die Augäpfel waren im Begriff aus ihren Höhlen zu quellen. Dieser Schmerz, der an der Innenwand seiner Schädeldecke wütete, ließ jenen anderen, den er beim Erwachen gespürt hatte, in den Hintergrund treten.
Beide Hände umklammerten den Kopf wie ein rohes Ei, als Aloisius sich wankend von seiner Schlafstelle erhob. Durch schlitzförmig geöffnete Augen hielt er Ausschau nach dem Alten. Dieser stand halb verdeckt hinter einem Baum und wahr dabei, sich zu entleeren.
Aloisius verspürte sogleich einen leichten einen intensiven Harndrang und suchte nach einer passenden Stelle.
Ein starkes Brennen schreckte ihn auf.
Verwundert betrachtete er sein Geschlecht und konnte im ersten Augenblick nicht glauben, was er sah. Binnen Bruchteilen von Sekunden begriff er, was der Alte ohne Vorankündigung an ihm vollzogen hatte. Seine Hand hielt etwas Fremdes, etwas leicht Geschwollenes und feurig wie eine Kirsche Glänzendes.
Er wandte sich um und sah in Richtung des Alten.
»Was hast du gemacht?«, schrie er ihm entgegen.
Der Alte sah ihn mit einem gewohnt sanften Lächeln an. Schwieg.
Aloisius war wie paralysiert. Sprachlos. Wie hatte der Alte nur so übergriffig handeln, geradezu niederträchtig sein können. Sein Schmerz ging über in unbändige Wut. Er machte einige Schritte auf den Alten zu. Hielt dann wieder inne.
»Wie konntest du nur?«
Mehr wusste Aloisius dem Alten nicht entgegenzuschleudern. Der Alte blieb davon unbewegt. Lächelte weiter.
Für einige Zeit war Aloisius erfüllt von einer Mischung aus Entsetzen, Abscheu, Fassungslosigkeit, Ohnmacht und dem Drang nach Vergeltung. In seinen Gedanken ersann er alle möglichen Ideen, wie er sich an dem Alten rächen könnte.
Der Alte lächelte ihn weiterhin an, obwohl ihm kaum entgehen konnte, was Aloisius in seinem Inneren umtrieb.
Suchend sah sich Aloisius um, fand weder einen geeigneten großen Stock oder Stein, mit dem er den Schädel des Alten am liebsten entzweigehauen hätte.
Der Alte musste diese Gedanken erahnt haben, den er bückte sich und griff nach einem mittelgroßen scharfkantigen Stein, ging einige Schritte auf ihn zu und hielt ihn ihm auffordernd entgegen.
Aloisius war überrascht. Kraftlos brach er zusammen und begann heftig zu weinen. Dabei war immer wieder ein würgendes »Nein, nein!« zu hören.

Später reichte der Alte ihm die Wundersalbe, von der Aloisius widerwillig, allein seinem Verstand folgend, Gebrauch nahm.

»Wo ist sie?«, brach es schluchzend aus ihm hervor, als sie schon wieder einige Zeit unterwegs waren.
Der Alte wandte sich um und zeigte den Weg zurück.

Während der folgenden Stunden, in denen Aloisius keine Notiz vom Alten nahm, mühsamer als sonst hinter ihm hertrottete, hie und dort einfach stehen blieb, in die Landschaft starrte und dann wieder unverwandt weiterging, da erfasste ihn eine seltsame zunächst nicht näher zu definierende Stimmung. Eine Art Schwermut. Das Gehen wurde beschwerlicher. Das Atmen flacher und häufiger. Es glich mehr und mehr einem Japsen, einem Schnappen, wie man es bei Sterbenden wahrnehmen kann.
Der Alte blieb in Sichtweite und hatte Aloisius, ohne sich umzudrehen, im Blick. Er schien in ihm auf eigentümliche Weise nahe zu sein. Verlangsamte Aloisius seine Schritte, tat er es ihm gleich. Blieb er stehen, so blieb auch der Alte stehen. Unsichtbar waren beide miteinander verbunden.
Längst hatte Aloisius seinen Schmerz, seine Rachegelüste gegenüber dem Alten und seiner Untat wie einen schorfigen Grind von sich abgestreift und zurückgelassen. Er war selbst erstaunt über den sich in ihm vollziehenden Sinneswandel.
›Suche Frieden und jage ihm nach.‹ Dieses alte biblische Wort kam ihm in den Sinn. Seine Mutter hatte oft zu ihm gegriffen, wenn sie den gerade mal wieder außer sich geratenen Sohn zu bändigen versuchte.
War er unbemerkt auf den Pfad des Friedens eingebogen.

Am Abend, die Sonne war längst untergegangen, breitete sich mit Einbruch der Dunkelheit eine unangenehme Frische aus. Eine kühle Nacht in einer höheren Region stand ihnen bevor.
Aloisius half dem Alten beim Entzünden des Feuers und sammelte ausreichend Nachschub für die lange Nacht in der nahen Umgebung.
Nun saß er zusammengekauert vor dem Feuer, hatte eine Decke umgelegt und starrte in die aufsteigenden Funken.
Als der Alte ihm einen Becher reichte, stieg nochmals ein Gedanke an die Ereignisse des Vortags auf. Er hob abwehrend den Arm und schüttelte den Kopf.
Erst da erkannte Aloisius im schwachen Schein des Feuers, dass der Alte auf einem flachen Stein einige Blätter, Reste des Abendmahls und einen Becher drapiert hatte. Ebenso hatte er eine Kerze entzündet, deren Flamme wild flackerte und jeden Moment auszugehen drohte.
Offenbar erwartete ihn keine weitere Untat des Alten. ›Zumindest nicht mehr für heute‹, dachte er bei sich.
Diese Einsicht stimmte Aloisius freundlicher und er nahm den Becher dankend entgegen. Der erste Schluck brannte in seiner Kehle und ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um etwas Hochprozentiges handeln musste.
Nachdem der Alte gleichfalls einen kräftigen Schluck genommen hatte und Teile davon wieder ausgeprustet hatte, schloss er die Augen und nahm eine für Aloisius bereits vertraute Haltung des Insichversunkenseins ein.
Zunächst blieb der Alte in sich gekehrt, bis er abrupt die Arme ausbreitete und den Kopf gegen Himmel wandte. Lautlos bewegten sich seine Lippen. Sie schienen unhörbare Worte zu bilden. Dabei nahm der Alte die ausgebreiteten Utensilien nach und nach in die Hand, hob sie kurz an, hielt kurze Zeit inne und setzte sie die Lippen in einem fort bewegend wieder ab. Diese Handlung vollzog er mehrer Male, bis er als letztes zur Kerze griff, diese mit der einen Hand emporreckte und mit der anderen kreisende Bewegungen um sie machte.
Alles sah nach einer Art Opferung aus, ohne dass Aloisius genau sagen konnte, wem diese galt. Ihm war jeder Form von Opferritualen fremd geblieben, selbst jene, die er in gemäßigter Form als Kind in der Ortskirche kennengelernt hatte und nie so recht verstanden hatte.
Dennoch hatte das Ritual, das der Alte vollzog für ihn etwas Ergreifendes. Es folgte keinem wahrnehmbaren Sinnzusammenhang, zielte nicht wie sonst üblich auf äußere Wirkung einer versammelten Menge ab, sondern war allein Ausdruck einer inneren Versunkenheit. Noch nie hatte Aloisius derlei Frömmigkeit erlebt.
Gebannt folgte er dem Ritual des Alten. Auch wenn sich die Bedeutung und die inneren Zusammenhänge nicht erschlossen, die Wirkung, die dieses Mysterium für ihn hatten, waren überwältigend. Bewegt sah er zu, wie der Alte das Ritual mit einer Geste beendete, dabei die Hände ausbreitete und für Minuten in dieser Haltung innehielt.
Aloisius tat es ihm gleich, breitete die Arme aus und schloss die Augen. Er spürte einen tiefen Frieden in sich aufsteigen. Mehr noch, eine tiefe Verbundenheit mit allem was ihn umgab, mit der Landschaft, der Welt der Tiere, mit Juan, der plötzlich wieder einen Namen für ihn hatte, mit all den Menschen in der Ferne, die sein Leben zu dem machten, was es war und schließlich noch zu etwas, das unbeschreibar und unbenennbar alles in allem war.

Aloisius gingen die Eindrücke noch lange nach. Die Handlung des Alten hatte eine Selbstlosigkeit offenbart, etwas von sich Abgewandtes – wie ein Akt eines Liebenden, der etwas von sich preisgibt.
Als Aloisius am nächsten Morgen erwachte, war das Feuer längst erloschen. Die Opfergaben lagen nicht mehr auf dem Stein.
Bevor sie aufbrachen, notierte Aloisius in seinem Skizzenblock: ›Wer empfangen will, muss bereit sein, etwas zu geben.‹