Ich lausche dem Feuer des Herzens XII

OhneTitel

Die anfängliche Frage, wann er das Ziel endlich erreichen würde, hatte sich längst in ihm aufgelöst. Aloisius war unterwegs. Zum ersten Mal in seinem Leben, ohne sich um ein Ziel, Gedanken zu machen.
Gelegentlich glaubte er immer noch, in eine Scheinwelt abgetaucht zu sein, ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit. Aber was war schon wirklich. War nicht alles eine Sache der Perspektive. Gleiches konnte je nach Betrachtungsweise so unterschiedlich sein.
Mehr und mehr begriff er, dass er dem Alten willenlos folgte. Gleichzeitig begann sich in ihm jeder Glaube daran, dass er ihn wirklich an den Ort bringen konnte, den zu erreichen sie sich auf den Weg gemacht hatten, aufzulösen.
Für ihn ging es vor allem um Eines, etwas zu finden, von dem er nicht wirklich sagen konnte, worin es bestand. Was er allein in sich spürte, war eine innere Unruhe, teilweise Anspannung, die sich seiner bemächtigte und in wie zuletzt alles, was sich ereignete, nur noch willenlos über sich ergehen ließ.
Wer war dieser Alte eigentlich? Er hatte ihn als Führer angeworben, genau genommen nicht er, sondern das Reisebüro, mit dem er bei der Planung der Reise in Kontakt getreten war. Wer sagte ihm eigentlich, dass sich der Alte nicht irgendwann an einer beliebigen Weggabelung aus dem Staub machte und ihn in diesem für ihn immer noch unwirklichen Bergland zurückließ. Er war sich sicher, dass er den Rückweg nicht finden würde.
Es gab kein zurück.
Aber wo gab es den je im wirklichen Leben.
Als der Alte sich wie gewohnt nach einer Weile wieder einmal umwandte, blieb dieser stehen. Irgendetwas an Aloisius fragenden Blick musste ihn verraten haben.
Er schloss zum Alten auf, der ihn kommentarlos vorbeischreiten ließ und keine Anstalten, machte ihm zu folgen.
Erst nach geraumer Zeit, es musste gut eine halbe Stunde vergangen sein, wandte sich Aloisius um. Weit und breit war weder der Alte noch der Esel zu sehen. Fast gleichgültig setzte er seinen Weg fort und machte das nächste Mal erst wieder halt, als er an einer Quelle, die aus einem Felsspalt sprudelte, anhielt und seinen Durst löschte. Er trank hastig. Mit seinen Handflächen fing er das Wasser auf und goss es sich über den Kopf, bevor er sich durchs Haar fuhr und sein Gesicht massierte.
Aloisius beschloss, eine Pause einzulegen und auf den Alten zu warten. ›Vertauschte Rollen‹, dachte er bei sich.
Er nahm im Schatten eines Strauches Platz. Nicht sogleich erkannte er, dass dieser voller reifer Früchte war, solche, die der Alte am Vortag schon gepflückt und ihm zum Verzehr gereicht hatte.
Er brauchte sich kaum strecken, ergriff eine Frucht und riss sie vom Ast ab. Nachdem er sie zerteilt hatte, saugte er das gallertartige kernige Fruchtfleisch aus und warf die entleerte Schale von sich.
Noch war er mit sich uneins, ob er auf das Eintreffen des Alten warten sollte. Einerseits kannte dieser allein den weiteren Weg. Andererseits waren ihm in den letzten Tagen die Landschaft und das Sein in ihr so vertraut geworden, dass er einen Augenblick davon überzeugt war, auch ohne den Alten, auf die Gefahr hin, nirgends anzukommen, den Weg allein fortsetzen zu können. Vielleicht war es an der Zeit, seinen Weg nun wirklich allein zu gehen.
Sogleich stand Aloisius auf und nahm den Weg wieder auf. Der erste Hunger und Durst war gestillt. Wenn es nicht wieder galt, irgendeine dürre Ebene zu durchwandern, konnte er sicher sein, dass er in dieser üppigen Berglandschaft fast überall seine Grundbedürfnisse befriedigen konnte.
Die Herausforderung, die er spürte, ganz ohne die Begleitung des Alten seinen Weg fortzusetzen, ließ ihn zögern. Dann besann er sich. Er war bereit, ein Wagnis einzugehen.

›Wer sich selbst finden will, darf die anderen nicht nach dem Weg fragen.‹ dieser Gedanke schoss Aloisius durch den Kopf, als die Sonne über ihm schon längst den Zenit des Tages überschritten hatte.
Wie nur, wenn der Alte genau darum wusste, und ihn alleine hatte fortziehen lassen. War alles also wieder nur ein abgekartetes Spiel. Vermutlich tauchte der Alte hinter einer der nächsten Biegungen wieder auf, würde ihm entgegenlachen und zu verstehen geben, dass er immer noch Herr Lage war.
Von den eigenen Gedanken irritiert und in Unruhe gebracht, sah er sich um. Mit einem Mal war ihm, als sei er an der Stelle, die er gerade passierte, schon einmal vorbeigekommen, Stunden zurück. Ließ der Alte ihn gar im Kreise laufen und beobachtete ihn von einer sicheren Position aus.
Aloisius hob den Blick und erkundete den Hang in Sichtweite. Er konnte nichts weiter sehen als die üppige Vegetation. Nichts Auffälliges fiel in sein Blickfeld und das leuchtend gelbe Hemd des Alten hätte er sicher wahrgenommen.
Und doch, hier war er wirklich schon einmal vorbeimarschiert. Er konnte sich gut an den markanten Stein zur Linken erinnern, der etwas über den Abhang hinunterragte.
»Juan!«
Aloisius Ruf blieb ungehört. Er mochte wirklich seit Stunden im Kreis gehen, der Alte war jedenfalls nicht in Rufweite. Er beschloss weiterzugehen, auch auf die Gefahr hin, dass er nach weiteren Stunden sich wieder an der gleichen Stelle einfinden würde. Für Wasser und Früchte war gesorgt. Kam es wirklich darauf an, ein Ziel zu erreichen, oder war der Weg bereits das Ziel. Dann war es fast unbedeutsam, welchen er nahm. Früher oder später würde sich der Alte sicher wieder zeigen.
›Hoffentlich!‹, sagte sich Aloisius mit nun doch leicht bangen Gedanken.
Plötzlich wurde ihm ganz anders. Aller Mut und alle Zuversicht, auch ohne den Alten seinen Weg fortsetzen zu können, waren mit einem Mal verflogen. Er begann zu frösteln, obwohl die Sonne immer noch kräftig auf seiner Haut brannte.
Ein zweites mächtig in die Länge gezogenes »Juuuuaaaaaaaan!« blieb ebenso ungehört. Nur ein leichtes Echo erschall von der anderen Seite des Tales.
Aloisius krabbelt auf den vor ihm liegenden Felsen und robbte langsam vorwärts, bis er frei in die vor ihm liegende Schlucht schauen konnte. Durchs Tal schlängelte sich ein Fluss, wobei er nicht ausmachen konnte, in welche Richtung er floss. Ein wohl eher in Anbetracht seiner widrigen Umstände unbedeutender Tatbestand, den weiter zu erforschen keinen Sinn machte. Und doch versuchte sein Blick geraume Zeit, nichts anderes als genau dieses zu erkunden.
Wie gut kannte er diesen Verhaltenszug an sich. Gerne lenkte er sich durch vermeintlich nichtige Fragen ab und versuchte damit einem drängenden Problem aus dem Weg zu gehen. Dies gelang äußert selten oder gar nicht, war aber zumindest für eines gut. Es brachte das Gemüt etwas zur Ruhe und eröffnete manchmal sogar den Blick für etwas bis dahin Übersehenes.
So lag er eine Weile auf dem Stein. Der Atem stockte und das Kribbeln im Bauch trugen nicht dazu bei, dass er eine entspannte Position einnehmen konnte. Erst als er den Blick auf den auf der anderen Seite des Tales liegenden Hang wandte, wurde er ruhige und konnte sich entspannen.
Aloisius genoss die Aussicht. Besonders ein einzelner Baum erfreute ihn. Seine feurigroten Blüten leuchteten in der Sonne und hoben sich vom satten Grün der übrigen Vegetation ab.