Ich lausche dem Feuer des Herzens XVI

OhneTitel

Das Donnern eines nahenden Gewitters war immer deutlicher zu hören.
Aloisius war schon einige Stunden unterwegs und hatte offensichtlich den Rundweg verlassen. Der große Stein war nicht mehr aufgetaucht. Dafür kleinere und nicht weniger imposante, Zeugnisse einer alten Erdgeschichte.
Auf seiner bisherigen Tageswanderung hatten es ihm vor allem die marmorierten Farbenspiele des Erdreichs angetan, die sich am Berghang auftaten. Er fragte sich, wie sich auf engstem Raum Schattierungen von einem Dunkelbraun, über Ocker zu Rostrot mit allen Zwischentönen zeigen konnten. Ihm war, als habe die Natur ihre eigene Leinwand gefunden.
Wieder bedauerte er, keinen Fotoapparat dabei zu haben. Andererseits war er seiner Umgebung auf diese Weise unmittelbarer verbunden. Nichts stand zwischen ihnen und nicht alles ließ sich wirklich festhalten. Es gab Eindrücke, die sich auf ganz andere Weise in sein Bewusstsein einbrannten. Dessen war er gewiss.
Ein erneutes Donnern, das schon bedächtig nahegekommen zu sein schien, schreckte ihn auf. Aloisius hielt in der näheren Umgebung nach einem schützenden Ort Ausschau. In Kürze würde ihn das Gewitter unweigerlich einholen.
Am liebsten hätte er sich in irgendeiner Höhle verkrochen und das Ende des Gewitters abgewartet. Daran war nun nicht zu denken. Weit und breit war nichts auszumachen, was ihm in irgendeiner Weise Schutz gewähren konnte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Weg mit leichtem Unbehagen fortzusetzen.

Tiefschwarze Regenwolken durchzogen das Hochland. Zum Teil glaubte Aloisius, die Hände nach ihnen ausstrecken zu können, so nah standen sie über ihm. Noch nie in seinem Leben war er den Naturgewalten so schutzlos ausgeliefert gewesen.
Der Umstand, dass der Himmel ganz Wasserfluten über ihm ergoss, machte ich kaum zu schaffen. Es waren diese mächtigen Blitze, denen in Bruchteilen von Sekunden ein gewaltiges Donnern folgte, das ihn mehr und mehr ängstigte.
Bang zählte Aloisius die Sekunden zwischen Donner und Blitz und hoffte inständig, dass der Zeitraum größer würde, lange vergeblich. Er war mittlerweile völlig durchnässt. Die Nässe, die etwas Abkühlung an diesem schwülwarmen Tag brachte, hatte etwas Angenehmes. Es war noch früh und seine Kleidung würde im weiteren Verlauf des Tages noch ausreichend Zeit zum Trocknen haben.
Sein sonst nüchternes Weltbild versagte ihm Umgang mit den über ihn hereinbrechenden Urängsten die Gefolgschaft. Er begann innerlich zu frösteln. Er zitterte am ganzen Leibe. Sein Inneres schien zusammenzuschrumpfen, fiel in sich zusammen in einem einzigen schwarzen Loch.
Wankend suchte er Halt.
Langsam verlor er jedes Gefühl für seinen Körper. Zitternd nach Luft japsend begann er zu wanken und kippte schließlich wie ein vom Blitz getroffener Baum um. Den unsanften Aufprall seines Körpers spürte er schon nicht mehr. Ohne Macht über seine äußere Hülle hatte sich etwas voneinander getrennt.

Sein Geist tauchte ab. Durchbrach eine Grenze.
Vogelgleich durchzog er die Lüfte mit ausgebreiteten Armen. Er gewann an Höhe. Schwebte dahin. Sein Körper war erfüllt von einer nie da gewesenen Leichtigkeit.
Vor ihm erschien an dichtes Wolkenband. Bald schon war er Teil eines schillernden Meeres von unzähligen Wasserkristallen, die ebenso schwerelos tanzend sich aufeinander zu wie voneinander weg bewegten. Seine Hände griffen nach ihnen.
Dort wo es ihm gelang, sie zu fassen, verbanden sie sich und stürzten sogleich erdwärts.
So also geht der Regenmacher, der Regent über die Wasserfluten des Himmels zu Werke, wurde ihm bewusst. Berauscht sammelte und zog er die Wassertropfen zusammen, bildete Regenstrahl um Regenstrahl, bis sich ein ganzer Wolkenbruch unter ihm ergoss und er sich bald schon wieder im tiefsten Blau wiederfand.
Es trieb in von Wolke zu Wolke. Wieder und wieder das gleiche Schauspiel. Ein Sammeln und sich Ergießen.

Als Aloisius wieder zu sich kam, schmerzte sein ganzer Körper. Verschwommen kam die Erinnerung an das fürchterliche Gewitter zurück.
Etwas benommen erhob er sich, war noch nicht in Gänze zurückgekehrt in jenen Mantel, der gleichsam schwerelos vorwärtsschritt. Ein seltsames Spiel zweier Wesen, die nach Vereinigung strebten.

Als die Dämmerung einbrach, sah sich Aloisius nach einem geeigneten Nachtlager um und begann sich wie am Vortag, auf die Nacht vorzubereiteten, sammelte Holz und machte Feuer.
Jedes Hungergefühl war ihm im Laufe des Tages abhanden gekommen, wie anderen ein Gegenstand. Mit einem Unterschied, dass er ihn so gar nicht zu vermissen schien. Den Durst hatte er auf der Wegstrecke an kleineren Bachläufen gestillt. Die reine Luft, die nach dem Gewitter noch reiner geworden zu sein schien, war ihm Nahrung genug.

Lange saß Aloisius am Feuer. Entspannt und erfüllt von einer inneren Ruhe und Gelassenheit. Die Gedanken der letzten Tage waren mehr und mehr seinem Geist entwichen und hatten einer angenehmen Stille Platz gemacht.
Noch nie hatte er sich mit solcher Hingabe ganz seiner Atmung hingeben. Einem tiefen, saugenden Einatmen folgte ein hörbares prustendes Ausatmen. Es war, als modelliere er die Tonleiter hinauf und hinunter. Dabei variierte er Tonlage und Tempo.
Allmählich wurde seine Atmung gleichförmiger. Etwas öffnete sich in Aloisius und wurde mehr und mehr eins mit seiner Umgebung. Er atmete und fühlte. Er spürte, wie er vollkommen in sich ruhte, mit sich und allem um sich verbunden war. Dem Tau des Abends, dem Rauschen des Windes, der Glut des Feuers, dem Geschmack von Unendlichkeit.
Das Leben offenbarte sich ihm in einer unbeschreiblichen Tiefe und Dichte. Und das auf so unmittelbare Weise, fern aller Gedanken, die zu schätzen und zu achten ihm bisher so unabdingbar gewesen war.
In dieser vollkommenen Stille begegnete er sich selbst auf eine ungewohnte Weise. Die Grundfrage seines Lebens, die Frage nach dem eigenen Sein, fand ungestellt eine Antwort. Kein Name, keine Ausprägung seines Lebens nahm Gestalt an. Mit der Erleben, zu sein, verschwanden alle Gedanken, alle Konstruktionen, das Fundament seines bisherigen Lebens.
Das Gefühl von dem, was sein Leben ausgemacht hatte, all das, was ihn so sehr bestimmt hatte, Gradmesser und Barometer seines Wohlbefindens gleichermaßen, all dies verlor an Bedeutung.
Mit jedem Atemzug wuchs Aloisius über sich hinaus und blieb doch ganz er selbst. Und hier spürte er, wach und seiner gewusst, wie er im Begriff war, sich von etwas zu lösen. Von Dingen, an die er sich und seine ganze Existenz im wahrsten Sinne des Wortes angeheftet hatte. Hier verflüssigte sich etwas, wurde brüchig, bekam Risse und wurde durchlässig für die Gegenwart des Seins und damit seiner Selbst.
Keine Frage, keine Gedanken nach Sinn und Nutzen all dessen bemächtigte sich seiner. Er erfuhr, dass das Sein und sein Selbst alles immer schon in sich tragen, ungewandelt, unvermengt und gleichzeitig untrennbar. Ohne Erkenntnis sein. Kein „Ich denke, also bin ich“ mehr.
Ich bin, da ich bin und ich dies selbst erfahre, ganz und gar in der Weite des Seins. Auch wenn sich diese Erfahrung später nie in seinem Gedächtnis manifestieren sollte, sie hatte für Aloisius etwas Berauschendes.
In der Fülle des Regens war ihm die Fülle des Seins und unbeabsichtigt die Fülle seines eigenen Seins begegnet. Diese Erfahrung nahm ihn mit wie ein reißender Bach. Und er floss dahin durch die Nacht, die keine war, bis zum Morgen, der keiner war, weil er sich in nichts unterschied.
Sein, dies wurde ihm erst viel später deutlich, braucht keine Unterschiede. Die Nacht braucht nicht den Tag, um sich abzugrenzen. Wir brauchen ihn, weil wir Orientierung in unserem Sein immer noch für eines der höchsten Güter halten. Orientierung kann helfen, wird uns aber nicht vom eigenen Sein fernhalten können.