In den nächsten Tagen folgte Aloisius einer Art innerem Kompass. Hätte man ihn nach seinem Weg gefragt, er hätte ratlos mit dem Kopf geschüttelt.
Er ging.
Schritt für Schritt.
Ob er etwas von seiner Umgebung wahrnahm, ließ sich nicht sagen. Seine Kleidung, oder besser, das, was von ihr übrig geblieben war, hing verdreckt und in Fetzen an seinem Körper. Fast schon nackt zog er seines Weges, den Blick unablässig auf den Boden gerichtet.
Nur noch unregelmäßig hielt er Rast. Irgendetwas trieb in voran und gab ihm Kraft. Nahrung und Wasser verloren an Bedeutung. Selbst nachts zog er ruhelos weiter.
Dort, wo ihn die Müdigkeit und Erschöpfung schließlich überkam, ließ er sich sogleich auf den Boden gleiten und fiel in einen tiefen Schlaf, aus dem er nicht selten erst am nächsten Tag erwachte.
Später, wenn er manchmal von diesen Tagen erzählte, sprach er meist von den ‚Tagen der schwarzen Sonne‘.
In ihm war es derart finster geworden, dass er den Wechsel zwischen Tag und Nacht nicht mehr mitbekam. Selbst der strahlenste Sonnenschein vermochten seine Gedanken kein bisschen aufzuhellen. Im Grunde war alles, was sein Denken sonst ausgemacht hatte, erloschen.
Aloisius schleppte mit schweren Schritten seine schwarze Leere vor sich her. Nicht ein klarer Gedanke erfüllte ihn in jenen Tagen.
Während sich all seine Gedanken auflösten, gewannen seine Sinne mehr und mehr an Bedeutung. Wie ein wildes Tier nahm er die Witterung auf. Er roch das Wasser schon kilometerweit vorher. Er sah, ohne zu sehen. In den langen dunklen Nächten waren es seine Füße, die geschickt Hindernissen auswichen und sicher dem vor ihm liegenden Weg folgten.
Er hörte, ohne aufzusehen, wenn die Aasgeier über ihm kreisten, wie sie ihn verfolgten und dann im Sturzflug über ihn herfielen. Mit einem geschickten Ausfallschritt wich er ihnen stets aus, hob die Hände abwehrend und stieß einen kehligen Schrei aus.
Einmal waren sie mitten im Schlaf über in hergefallen und hatten damit begonnen, seinen noch lebenden Körper anzufressen. Vom Picken aufgeweckt konnte er die räuberische Meute im letzten Moment vertreiben. An einige Stellen klafften blutige Wunden auf. Dies nahm er völlig emotionslos wahr. Er verspürte keinerlei Schmerz.
Mit jedem Tag schien sich das Leben von ihm zu entfernen. Der Geist war ihm längst entschwunden. Dies brachte ihn wiederholt in lebensbedrohliche Situationen.
Bei einer Rast ließ es sich sorglos am Fuße eines manngroßen Termitenhügels nieder. Stunden später, als er aus dem Schlaf erwachte, war sein ganzer Körper von Termiten bevölkert. Als er sich wieder aufrichtete, fielen diese wie tot von ihm ab. ‚Sonderbar‘, war das Letzte, was er bewusst dachte.
Dann geschah das Sonderbare. Es war gegen Abend eines dieser ungezählten Tage in der Zeit der schwarzen Sonne.
Als Aloisius seinen Blick hob, was nur noch selten vorkam, sah er vor sich eine Meute von Aasgeiern, die sich über den Kadaver eines vierbeinigen Tieres von der Größe eines Esels hermachten.
Er trat heran.
Anders als sonst scheuchte seine Annäherung die Aasgeier nicht auf. Sie blieben und fuhren fort, den Kadaver mit ihren Schnäbeln zu bearbeiten.
Aloisius kniete neben ihnen nieder und begann, es ihnen gleich zu tun.
Es war, als sei er auf sonderbare Weise in ein früheres Stadium der Menschheitsgeschichte zurückgekehrt, fern ab von einer inneren Bewusstheit über sein eigenes Sein. Vielleicht nahm sein Gehirn sehr wohl noch wahr, was da geschah, steuerte sogar den Vorgang, ohne sich darüber klar zu werden, was sich ereignete.
Die Aasgeier schien seine Anwesenheit nicht weiter zu stören. Zu unbeholfen, war das, was Aloisius tat. Der Vogelmensch war keine wirkliche Gefahr für ihre Beute.
In jenen Tagen entstanden Gedanken, die erst Jahre später in sein Bewusstsein traten und zu Papier gebracht wurden:
Vogelmensch
Ziehst deine Kreise
In schwindlige Höhen
Auf irdische Weise
Möcht‘st dich erheben
Und stürzt doch hinab
Folgst zwei Naturen
Doch kannst keine
ganz lassen
Eigentümlich war in jenen Tagen ein weiterer Umstand. Während Aloisius ohne Bewusstheit über all das, was in ihm und um ihn herum geschah durch die Tage schritt, existierte gleichzeitig etwas, zu dem er aber keinen Zugang mehr bekam. Es gleichsam so, als hätte sich jener Teil in ihm, der Geist, Denken und das daraus resultierende Handeln zu einer mehr oder minder sinngebenden Einheit verbanden ganz und gar aufgelöst.
Keiner hätte behaupten können, dass diese das Wesen des Menschen elementar ausmachenden Rückkopplungsvorgänge im Gehirn nicht mehr stattfanden. Es war Aloisius einfach nicht mehr bewusst. Und dies reichte aus, um sagen zu können: Es ist nicht.
Er dachte nicht.
Existierte er in der Umkehrung dessen, was ein Philosoph einst behauptet hatte, damit nicht länger? Offensichtlich nicht. Dieser sonderbare Vogelmensch, zu dem sich Aloisius mehr und mehr entwickelte, war genauso real wie alles, dessen dieser sich ausgesetzt sah.
Es gab etwas in ihm, was dachte, reflektierte, einordnete und verwarf. Und doch war es ihm nicht möglich, zu diesen Gedanken vorzudringen.
Das, was da dachte, sah sich dem Umstand ausgesetzt, keinen Einfluss mehr auf Steuerung der Handlungen zu haben. Es schwebte über allem.
Aloisius, oder das, was von außen betrachtet als äußere Hülle, als Vogelmensch durch die Landschaft zog, war all dessen beraubt – ein geistloses Wesen.