Ich lausche dem Feuer des Herzens XVIII

OhneTitel

Der Vogelmensch hockte noch über dem Kadaver, als die Meute Aasgeier schon längst das Weite gesucht hatte. Die abgenagten Knochenreste ließen nur erahnen, um welche stolze Kreatur es sich gehandelt haben musste. Konzentriert nagte er die letzten Reste eines Knochens ab.
Der von ihm gelöste Geist schwebte über ihm und sah dem Ganzen mit Befremden zu.
„Ich muss schnellstens zurück, um dem merkwürdigen Treiben Einhalt zu gebieten. Ich kann nicht glauben, was ich sehe. Wie kannst du nur zu Derartigem fähig sein? Hast du mich fortgejagt, um in das Sein deiner Vorfahren zurückzukehren?“
Intuitiv richtete der Vogelmensch sich auf. Er sah sich wie ein Tier, das einer Witterung folgt, um. Plötzlich begann er wie wild mit den Armen zu fuchteln, so als wolle er sich vor einer nahenden Gefahr schützen.
Da war niemand. Der Vogelmensch ließ seine Arme sinken und wandte sich erneut seinem Knochen zu. Er nagte und saugte voller Genuss an ihm.
„Es ist erbärmlich, dir zuzuschauen. Bist du einst vom Baum gestiegen und hast dich aufgerichtet, um nun am Boden zu kriechen wie ein wildes Tier?“
Nicht genug damit, nun begann der Vogelmensch zu hüpfen und entfernte sich vom Kadaver. Mit Entsetzen nahm der Geist dies wahr.
Unsichtbar stellte er sich ihm in den Weg.
„Richte dich auf und lass den Unsinn! Hast du jede Achtung vor dir selbst verloren?“
Der Vogelmensch sah sich um. Seine Augen schienen aus ihren Höhlen herauszuwachsen und inspizierten die nahe Umgebung. Dabei vollführte der Kopf ruckhafte Bewegungen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis der Vogelmensch wieder zur Ruhe kam. Unvermittelt sank er in sich zusammen. Bald schon verlor er das Gleichgewicht, kippte um und blieb reglos liegen.
Von Ferne konnte der Geist erkennen, wie der Vogelmensch die Augen schloss.

Aloisius kam wieder zu sich und richtete sich auf. Er versuchte, die Situation zu erfassen. Irritiert sah er seine mit Blut und Dreck verschmutzen Hände. Sein Mund war erfüllt von Eisengeschmack und in einer Zahnspalte hing etwas fest. Als er wenig später eine Fleischfaser zwischen den Fingern betrachtete, erschauerte er.
Er sah an sich herab und wurde sich seines erbärmlichen Zustandes bewusst. Schwerfällig setzte er einen Fuß vor den anderen.

Irgendwann erreichte Aloisius das Rinnsal eines Baches. Sein Bemühen, sich von allem Schmutz zu befreien, war ein aussichtsloses Unterfangen. Nach wenigen Versuchen gab er auf.
Durstig beugte sich Aloisius herab, schöpfte etwas von diesem trüben Nass und führte es an den Mund. Angewidert spukte er alles wieder aus und begann heftig zu würgen. Erst jetzt nahm er den bestialischen Gestank wahr. In der Nähe konnte er den Kadaver eines Vogels ausmachen. Dieser hatte offensichtlich das Wasser verseucht.
Er sprang fluchtartig auf und suchte das Weite.

Erst Stunden später erreichte er einen Wasserfall, der sich zwischen zwei Felsspalten abwärts schlängelte. Auf allen Vieren kroch bedächtig an jene Stelle, wo sich das Wasser in einer knietiefen  Mulde gesammelt hatte.
Das eisige Wasser nahm Aloisius kaum wahr. Der Wunsch sich von allem Schmutz und Dreck zu befreien war größer. Wiederholt tauchte er den Kopf unter, ließ Wasser in den Mund fließen, verharrte eine Weile, bevor er ruckhaft den Kopf von lautstarkem Prusten begleitet mit einem kläglichen Schrei aus dem Wasser zog.
Als er dem kleinen Tümpel aufrecht entstieg, war eine gewisse Vitalität in seine Glieder zurückgekehrt. Hungrig sah er sich nach Essbarem um. Einige Schritte weit entfernt entdeckte er einen Baum, an dem zahlreiche reife Früchten hingen.
Er näherte sich und griff zunächst nach einer auf dem Boden liegenden Frucht. Aus ihrer beim Sturz aufgeplatzten Schale quoll das Fruchtfleisch heraus. Noch rechtzeitig, bevor er zubiss, sah er die krabbelnden Ameisen und warf die Frucht in weitem Bogen von sich fort. Mit Mühe und unter Aufbietung der letzten Kräfte streckte er sich nach einer über ihm hängenden Frucht. Nach mehrmaligen Versuchen bekam er sie zu fassen.
Eine Weile betrachtete Aloisius die Frucht von allen Seiten, wollte sichergehen, dass auch diese Frucht nicht befallen war. Voller Heißhunger verschlang er sie mit wenigen Bissen. Erst nach der zweiten Frucht, die er sich ebenso mühsam gepflückt hatte, nahm er wahr, dass der Baum durchaus geeignet war, um ihn zu besteigen.
Wenig später saß er auf einem Ast in schwindliger Höhe, griff nach den um ihn herum hängenden Früchten und verschlang nach und nach eine um die andere. Ihr Geschmack war süß-säuerlich und gleichzeitig erfrischend.

Aloisius kam mehr und mehr zu sich. Er saß immer noch im Baum. Seine gewohnt geistige Frische schien langsam in ihn zurückzukehren.
»Wo ist der Alte?«, entfuhr es ihm. Es waren seit langem die ersten Worte.
»Du hast dich davon gemacht und mich hier in dieser Wildnis zurückgelassen.«
Schatten voller Angst legten sich auf sein Gesicht. Nervös kratzte er sich am Kopf und ertastete dabei zahllose Krusten.
»Bin ich gestürzt?«
Als er an sich herabsah und seine anderen Körperteile beäugte, musste er heftig nicken.
»Nicht nur einmal. Das ist mehr als offensichtlich. Und die Kleidung könntest du wohl auch mal wechseln«, pflichtete er sich selbst bei.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Seine Gesichtszüge entspannten sich, um sich sogleich wieder zu verfinstern.
»Gegen etwas Gesellschaft in dieser Ödnis wäre nichts einzuwenden. Wo steckt der Alte nur? Was würde ich drum geben, diesen stummen Gesellen wieder an meiner Seite wissen zu dürfen.«