Als er sich umschaute, konnte Aloisius nicht glauben, was er sah. Der Alte saß unweit von ihm entfernt auf einem Stein und lächelte ihm zu.
Beschämt über seinen äußeren Zustand trat er ein Schritt zur Seite, um dem Blickfeld des Alten hinter einem Baum zu entgehen. Dieser schüttelte den Kopf und streckte ihm eine Hand entgegen.
»Komm her! Keine falsche Scham. Du hast dich in den letzten Tagen wacker gehalten. Ich habe dir, sagen wir als kleine Anerkennung all der Strapazen, die du auf dich genommen hast, ein kleines Mahl bereitet. Und an neuer Kleidung soll es auch nicht mangeln.«
Das Lächeln des Alten nahm eine fast unerträgliche Breite an.
Etwas hielt Aloisius noch zurück. Er konnte noch weniger glauben, was er hörte. Dieser Halunke. Der Alte hatte ihn stets im Glauben gelassen, er könne nicht sprechen. Welches falsche Spiel trieb er mit ihm?
»Du fragst dich zu Recht, warum ich bislang nicht mit dir gesprochen habe. Sagen wir es einmal so: Es war noch nicht an der Zeit.«
»An der Zeit?! Du machst Scherze.«
»Nein, mein Lieber. Gewisse unangenehme und für dich kaum verständliche Dinge waren notwendig, um dich auf das, was nun folgen wird, einzustimmen.«
»Einzustimmen?! Mir reicht’s. Gib die Klamotten her und dann wirst du mich nicht wiedersehen.«
»Wo willst du hin?«
»Ich weiß es nicht. Aber es kann nur besser werden. Glaub ja nicht, du würdest einen Heller von dem bekommen, was wir vereinbart haben.«
Aloisius spürte, wie er vor lauter Wut erhitzte und zu stottern begann.
»Iiich müüüssstee diiiich aaanzeeeiiigeeen.«
»Nun komm erst einmal zu dir. Ich habe uns einen guten starken Kaffee gemacht. Und Hunger hast du sicher auch.
Die Aussicht darauf stimmte Aloisius etwas milder. Er nahm neben dem Alten Platz und widmete sich sogleich seinem Morgenmahl.
Während er die letzten Reste in sich gierig verschlang, nahm der Alte die Gunst des Augenblicks wahr.
»Wenn es erlaubt ist, würde ich gerne einige Worte zum ersten Teil unserer Reise verlieren.«
Aloisius nickte wortlos.
»Du hast diese Reise angetreten, weil du in die Tiefen des Seins schauen wolltest.«
Der Alte betrachtete ihn durchdringend. Aloisius spürte, wie sich in ihm alles zuzog. Beim Gedanken an die letzten Tage wurde ihm schwindelig.
»Atme tief ein und aus«, versuchte der Alte ihn zu beruhigen.
»Es ist wirklich vorbei. Auf dich wartet nichts Vergleichbares mehr.«
Aloisius sah in fragend an.
»Du hast alle Prüfungen, die für deine Initiation notwendig waren, bestanden. Und …«
Hier unterbrach der Alte sich selbst und sah ihn erneut mit nun funkelnden Augen an.
»Und du hast dich wirklich als würdig erwiesen.«
»Würdig, du machst dich lustig über mich«, entgegnete Aloisius scharf.
»Ich kann mich noch gut an all die Dinge erinnern, die im Erleben für mich nicht nur grausam waren. Schlimmer war, dass ich den Eindruck hatte, den Verstand zu verlieren.«
»Recht so.«
»Recht so?!«
Aloisius konnte seinen Ohren nicht trauen. Er musste sich beherrschen, um nicht sogleich aufzuspringen und davon zu eilen.
»Lass mich doch erst erklären, worum es geht, bevor du jedes Mal außer dich gerätst.«
Der Alte hob besänftigend beide Arme und führte sie in einer Kreisbewegung vor seine Brust.
»Das, was dich durch dein bisheriges Leben geleitet hat, all die Grunderfahrungen, die du vom Anfang deines Lebens bis heute gemacht hast, all dies war bis vor kurzem Grundlage, Impuls wie Motivation deines Handelns.«
Aloisius nickte unbewusst.
»Du musstest all diese zum Teil mehr als grenzwertigen Erfahrungen machen, und glaube mir, es hat mich selbst viel Überwindung gekostet, dir zeitweise so nahe zu treten …«
Hier unterbrach der Alte erneut. Innerlich sehr bewegt schien er sich sammeln zu müssen.
»Diese Erfahrungen haben jede Angst, jede Not, alles spüren lassen, was dem Menschen widerfahren kann. Sie haben dich in ausweglose Situationen geführt, Situationen, aus denen es kein Entrinnen gab. Erst jetzt, wo dein Verstand mit all dem, was du an ihm bisher so geschätzt hast, an eine Grenze gekommen ist, erst jenseits dieser Grenze, ist es dir möglich neue Erfahrungen zu machen. Erfahrungen, die dein Verstand nicht einfach erfassen und möglicherweise für plausibel halten wird, sondern denen er auch folgen kann. Du bist dabei so etwas wie eine Wandlung an und in dir zu erfahren. All das, was bisher geschehen ist, diente nur einem Zweck: Es sollte dich reinigen und bereit machen für den Weg, den du ab heute gehen wirst.«
»Ich«, weiter kam Aloisius nicht. Der Impuls, weiter zu sprechen, wurde unterbunden. Ratlos sank sein Kopf zu Boden.
»Sieh mich an!«, setzte der Alte fort.
Aloisius hob zögerlich den Kopf und sah ihn an.
»Du wolltest dem Meister begegnen. Ich werde dich zu ihm führen.«
Bei der Erwähnung des Meisters hellte sich der Blick Aloisius auf.
»Kannst du dich erinnern, wie oft dein Verstand an mir gezweifelt hat. An allem, was ich tat. Bis, ja bis eines Tages die Worte ›Nicht vom Brot allein‹ sich in einer anderen Region deines Geistes bildeten.«
Aloisius sah ihn entgeistert an. Wie konnte der Alte um seine Gedanken wissen.
»Es ist unwichtig, warum ich deine Gedanken von damals kenne. Begreife doch endlich: Erst wenn du bereit bist, deinem Verstand die Gefolgschaft aufzukündigen, vielleicht nicht in allem, aber zeitweilig doch, erst dann kann dein Sein in die Tiefe des Seins eintauchen.«
»Ich bin bereit.«
Diese Worte entwichen seinem Mund so unvermittelt, dass Aloisius vor Schreck eine Hand vor den Mund nahm.
»Ei, dein Geist ist also bereit, aufzubrechen. Wohlan, ich will ihn führen. Vertraue mir.«
Aloisius sah den Alten eine Weile tief in die Augen. Dabei entdeckte er in einem seiner Augen einen leuchtenden, hellen Fleck. Er hatte ihn zuvor nie wahrgenommen. Er schien zu funkeln, wenngleich er nicht sagen konnte, wie.
»Nun bist du bereit mir zu folgen, wenngleich auf eine andere Weise. Dein Geist hat die tiefere Wahrheit jener Worte, die einst ein Weiser fand, erfasst. Lass uns aufbrechen! Ich bin guten Mutes.«
Als sie schließlich aufbrachen, ließ Aloisius nicht nur ein Bündel Lumpen zurück. Ihm war, als bliebe ein Teil von ihm selbst zurück. Gleichsam erfasste ihn eine seltsame und nicht beschreibare Leichtigkeit.