Ich lausche dem Feuer des Herzens XXI

OhneTitel

Der Alte zog bei der nächsten Rast einen Zettel aus der Satteltasche. Es musste ein sehr Alter sein. Beim Auseinanderfalten wurden zahlreiche Löcher in den Knickfalten sichtbar.
»Bevor ich dich heute mit der ersten für Menschen vielleicht grundlegenden Erkenntnis vertraut machen möchte, werde ich dir etwas vorlesen. Es stammt von einem anderen Herrn, den ich wie dich vor Jahren zum Meister geführt habe. Er überließ mir den Zettel, als wir uns voneinander verabschiedeten. Den Text schrieb er damals vor seiner Reise.«

gefangen

gefangen sein. wie ist das möglich? warum und wieso hat sich schon mancher gefragt. mit welchem ergebnis? mit keinem. oder doch? ich weiß es nicht. kann man denn überhaupt eine antwort geben? ich glaube nicht. ausgeliefert sein. man ist ein gefangener. aber von wem? oder von was? und dabei nichts tun können. aber auch gar nichts. schrecklich. ist es denn etwas schlechtes? erwiesenermaßen nicht. aber? aber was? also nicht. warum dann die ganze panik? nein, ganz gewiss nicht. es ist etwas gutes. es muß etwas gutes sein. man sagt es. wer ist man? alle. und wer sind alle? na, jedenfalls soll es, oder er, oder sie von jemandem kommen der besondere fähigkeiten besitzt. solche, die man auf jahrmärkten und im zirkus sieht. so denke ich mir. vielleicht ein hypnotiseur. der nimmt einen ja auch ganz gefangen. oder irre ich mich da? gewiss, ganz bestimmt. der kerl nimmt einen zwar gefangen. aber irgendwann läßt er auch wieder von einem ab. also muß es was anders sein. ich wehre mich oft dagegen. vergebens. alle bemühungen, sich zu wehren sind von vornherein zum scheitern verurteilt. alles mühen und tun ohne erfolg. soll ich aufgeben? nein. das wäre wohl nicht angebracht. schließlich soll es ja nichts so schlechtes sein. ist es etwas genießbares? aber dann müßte es ja etwas schönes sein. also was ist es denn nun? na ja, die antwort fällt nicht schwer. gefangen zu sein, ist nie schön. egal wie. vielleicht ist dies ja eine ausnahme. jetzt habe ich´s. eine ausnahme. natürlich. warum bin ich nicht schon früher darauf gekommen? ich trottel. ich war blind. benebelt. wovon nur? eigentlich spielt das nun auch keine rolle mehr. ich kann es dabei bewenden lassen. es ist also eine ausnahme. ausnahmen bestätigen die regel. quatsch, laß dir deine antwort nicht wieder entreißen. ich bin begeistert von mir. ich wußte ja schon immer, daß ich ein genie bin. das kann doch keiner bestreiten wollen. oder? es ist also eine ausnahme. aber wovon? ach so… stimmt… gefangen zu sein, ist etwas schönes. man gibt sich ganz hin. ganz und gar und es ist trotzdem schön. alles stehn und liegen lassen. alles fallen lassen und… und was? Was machen? irgendetwas muß doch geschehen. folgen. etwas folgen. aber was? man wird sich doch nicht von gefühlen leiten lassen. nein, das wäre fatal. das geht nicht. immer kühlen kopf bewahren. aber ich bin doch gefangen. ich kann doch gar nicht anders, als mich hingeben. jedes wehren ist vergeblich. umsonst die mühe. ich bin doch gefangen. ich bleibe hilflos, sie ein kleines kind. und ich handle. vernünftig. nein, ganz und gar nicht. es ist nie unvernünftig, diesem… diesem was? ja, diesem … zu folgen. oder? nein, es ist ganz sicherlich vernünftig. das sagt mein verstand. habe ich denn einen? ich weiß es nicht. jedenfalls wenn… was dann? ist mir auch egal. ich handle jedenfalls danach und … und was? fühle mich wohl. wie, gefangen sein und sich wohl fühlen. geht das denn? doch es geht. oder doch nicht? mir ist es egal. für mich trifft es zu. was kümmern mich die anderen. außerdem habe ich es jetzt schwarz auf weiß. hier steht es geschrieben. und ich las es auch noch irgendwo anders. deshalb, es muß stimmen. gefangen sein ist also nichts schlechtes. aber wovon bin ich nun gefangen? sitze ich gar in einem gefängnis? gefängnis! nein, sicherlich nicht. hätte ich doch längst gemerkt. gitter sind jedenfalls keine vor meinem fenster. was nun?
ich bin ratlos. zusammengefaßt. was? fakten: 1. gefangen sein; 2. ein schönes gefühl. Aber was sagt mein verstand?

Aloisius verschränkte die Hände vor dem Gesicht. Der Alte sah ihn forschend an.
»Konntest du folgen?«
Verwundert über die Frage hob Aloisius den Kopf.
»Folgen?! Ich konnte diesem Kauderwelsch kaum folgen. Das Einzige, an das ich mich erinnere, ist irgendetwas von einem Gefangensein … Ach ja … und von einem schönen Gefühl.«
Nachdem er tief eingeatmet hatte, ergänzte er:
»Der Mann scheint nicht ganz bei Sinnen gewesen zu sein. Was sie mir vorgelesen haben, ist kein zusammenhängender Text. Es ist eine Ansammlung von Wortfetzen, die für mich keinen Sinn ergeben.«
»Wie manches in deinem bisherigen Leben, was dich zunächst beunruhigt und dann motiviert hat, diese Reise anzutreten.«
Nun holte der Alte tief Luft.
»Kennst du das Gefühl ›gefangen zu sein‹?«
»Freilich. Nur zu gut.«
»Versuch zu beschreiben, worin dieses Gefühl besteht.«
»Zunächst ist mein Sein gebunden an Zusammenhänge und Personen, die alle auf ihre Weise mich gefangen nehmen, um es mit den Worten deines geistreichen Autors zu sagen.«
»Kein Spott bitte! Fahre fort!«
»Nun gut. In den letzten Jahren hielt mich in der Tat gelegentlich innerlich etwas gefangen, oder um es mit meinen Worten zu sagen, etwas hat mich gesteuert, mich in meinem Verhalten geleitet und konditioniert. Immer wenn ich mir dessen bewusst werde, fühle ich eine ungeheure Schwere auf mir lasten und dabei eher unfrei.«
»Wie klar sind in solchen Augenblicken deine Gedanken?
»Sehr verschwommen. Häufig kann ich kaum einen klaren Gedanken fassen.«
»So wie der Autor des Textes?«
»Jetzt wo du es sagst, irgendwie schon. Entschuldige meine abfällige Bemerkung! Ich wollte wirklich nicht überheblich sein.«
»Lass gut sein. Ich halte fest: Auch du kennst die Augenblicke, in denen dir dein Verstand die Gefolgschaft leistet. Augenblicke, in denen du dich gefangen fühlst, ohne sagen zu können, warum und von was oder wem?«
»Richtig.«
Aloisius musste schlucken.
»Bleib ganz ruhig! Dir geht es nicht anders als allen Menschen. Kann ich fortfahren?«
Ein Nicken.
»In Ermangelung einer wirklich plausiblen Erklärung greift der Verstand zu den Gefühlen und redet sich ein, alles müsse einen irgendwie gearteten Sinn haben. Und darum fällt das Gefühl auch angenehm aus. Müsste es nicht eher unangenehm sein?«
Erneutes Nicken. Der Alte konnte sehen, wie Aloisius mehr und mehr in sich zusammensank.
»Merke: Wen der Verstand an seine Grenzen gelangt, neigt der Mensch dazu, sich etwas Angenehmes vorzustellen. Es ist wie mit der Frage aller Fragen, was uns nach dem Tod erwartet.«
Aloisius schien sichtlich mitgenommen. Unbeirrt davon fuhr der Alte fort.
»Und hier nun die erste und grundlegende Erkenntnis des Seins: Es gibt keine Auferstehung, aber es gibt die Ewigkeit.«
Wie von einem Pfeil getroffen, streckte der letzte Satz Aloisius nieder. Er kippte um, wie ein nasser Sandsack. Sein Kopf schlug unsanft auf dem steinigen Boden auf.

Aloisius kam erst Minuten später zu sich. Er schaute sich irritiert um und brauchte eine Weile, um die Situation zu erfassen.
Ohne abzuwarten, hob der Alte sogleich wieder die Stimme.
»Wolltest dich wohl davonmachen?! Aber lassen wir die Erklärung für das, was sich gerade ereignet hat.«
»Ereignet hat?«
Aloisius schaute den Alten entgeistert an.
»Du warst einige Minuten bewusstlos. Offensichtlich hat dir mein letzter Satz den Verstand geraubt, obwohl die Erkenntnis ja nicht allzu neu … und doch immer wieder in ihrer Konsequenz arg unangenehm ist.«
»Erkenntnis?«
»Ja, ich sprach davon, dass es kein Leben nach dem Tod gibt.«
»Das ist in der Tat nicht so neu. Wenngleich ich zugeben muss, dass mir die Vorstellung an ein Leben nach dem Tod in schwierigen Situationen oder Phasen meines Lebens irgendwie getröstet hat. Ich kann wirklich sagen, dass dies wohl das Einzige ist, was von meinem Glauben übrig geblieben ist – wenn man ihn als solchen überhaupt noch bezeichnen kann.«
»Ein angenehmes Gefühl!?«
Der Blick des Alten hatte nun etwas Herausforderndes.
»Kann man wohl sagen.«
Erst jetzt, indem Aloisius diese Erkenntnis durch seine letzten Worte bekräftigte, wurde ihm bewusst, welch tiefsinniges Gedankenspiel der Alte mit ihm betrieben hatte.
»Lassen wir es für den Augenblick bewenden. Ich werde später darauf eingehen und meine Gedanken weiter ausführen. Was hältst du von einer kleinen Zwischenmahlzeit!?«
Aloisius Nicken war nicht gerade überzeugend. Zu sehr hatte ihn der Gedankengang des Alten irritiert und innerlich beunruhigt.