Ich lausche dem Feuer des Herzens XXII

OhneTitel

Nach der Zwischenmahlzeit machte der Alte keine Anstalten, den Weg fortzusetzen. Er strahlte Ruhe und Gelassenheit aus, die für Aloisius etwas Herausforderndes, geradezu Beängstigendes hatte.
„Darf ich dir etwas sagen?“, unterbrach der Alte das Schweigen zwischen ihnen.
Aloisius fiel mehr und mehr in sich zusammen. Etwas hatte ihn völlig aus dem inneren Gleichgewicht gebracht. Den Alten jedoch schien dies, wenig zu wundern. Behutsam begann er, zu reden und setze jedes seiner folgenden Worte mit Bedacht. Ihm war bewusst, dass es nun auf jedes seiner Worte ankam.
„Ich würde meine Gedanken von eben gerne fortsetzen. Bist du bereit, mir nochmals zu folgen?“
Aloisius sah kurz auf. In seinem Blick erkannte der Alte einen Anflug von Panik.
„Was ängstigt dich?“, wollte er wissen.
Wieder sah Aloisius auf und betrachtete den Alten fragend.
„Was meinst du? Ich verstehe nicht recht.“
„Du wirkst angespannt. So, als ob dich etwas sehr belasten würde.“
Aloisius dachte nach.
„Belasten?! Du bist gut. Erst konfrontierst du mich mit meiner Endlichkeit und dann wundert es dich, wenn dies nicht ohne Folgen bleibt.“
Der Alte antwortete nicht sogleich und sah Aloisius durchdringend an. Dieser konnte seinem Blick nicht standhalten und wandte sich ab.
„Was fühlst du?“
Ein Schütteln ging durch Aloisius Körper. Seine Beine begannen zu zittern. Offensichtlich war er außer Stande, dem Alten zu antworten. Es war nicht mal sicher, dass er seine Frage überhaupt wahrgenommen hatte.
„Lass dir Zeit, zu spüren, was in dir vorgeht!“
Die Worte des Alten waren sanft und einfühlsam.
Aloisius Atmung wurde flacher und drohte sich gleichzeitig zu überschlagen. Sein Hecheln glich einem außer Atem gekommenen Tier.
„Wenn du Gefahr witterst, stell dich ihr!“
Der Alte hatte seine Worte noch nicht ausgesprochen, da sank Aloisius in sich zusammen und verlor das Bewusstsein.

Aloisius liefen Tränen die Wangen hinunter. Sein Schluchzen ging allen Anwesenden in Mark und Bein. Entgeistert betrachtete er den reglosen Leichnam seines Großvaters. Sein Körper schwankte hin und her und seiner Kelle entwich ein beängstigender Ton. Seine Großmutter trat von hinten hinzu und umklammerte seinen zierlichen Leib. Auch sie begann zu schwanken.
„Aloisius. Sei nicht traurig. Da wo Opa nun ist, geht es ihm gut und er hat keine Schmerzen mehr.“
Aloisius hielt in seinem Schwanken inne, löste sich aus der Umklammerung und drehte sich zur Großmutter um.
„Opa ist tot. Wie soll es ihm da gut gehen?“
Für einen Augenblick verlor die Großmutter ihre Fassung. Dann entgegnete sie mit gefasster Stimme:
„Opa ist doch beim lieben Gott, mein Junge. Dort werden wir alle irgendwann einmal sein.“
Plötzlich verfinsterte sich ihr Blick.
„Das ist so gewiss, wie das Amen in der Kirche. Ungewiss ist nur, ob jeder von uns, dorthin kommt, oder eher in die Hölle, dorthin wo Heulen und Zähneknirschen sein wird.“
Aloisius wandte sich ab und machte Anstalten, das Sterbezimmer zu verlassen.
„Tot ist tot“, schleuderte er seiner Großmutter entgegen.
„Daran kann dein lieber Gott nichts ändern.“
Die Großmutter ergriff Aloisius beim Arm. Ihr Griff war fest und unsanft.
„Junge, sag doch so etwas nicht. Der liebe Herrgott sollte dies nicht hören. Am Ende …“
Weiter kam sie nicht, denn Aloisius hatte sich ihrem Griff entwunden und war aus dem Zimmer geeilt.

Als Aloisius wieder zu sich kam, sah er in das freundliche Gesicht des Alten.
„Was ist geschehen?!
„Du bist wieder in Ohnmacht gefallen. Offensichtlich hat dich etwas in deinem Inneren sehr berührt.“
„Berührt?!“
„Ja. Du hast dich gewunden und hast wie wild um dich geschlagen.“
Aloisius schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern.
„Ich war am Sterbebett meines Großvaters. Ich weiß im Grunde nicht recht, was an jenem Tag geschehen ist. Meine Großmutter hat mir später oft davon erzählt. Ob es stimmt, was sie mir da erzählt hat, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall war die Erinnerung an den Sterbetag meines Großvaters der Anlass, über den Tod und ein Leben nach dem Tod zu reden. Gleichwohl verband meine Großmutter dies immer mit dem moralisch erhoben Zeigefinger, nur ja ein Leben in Anstand und nach den Geboten Gottes zu führen.“
Seufzend stand Aloisius auf und ging hin und her.
„Es ist verrückt. Ich habe die Worte meiner Großmutter nie in Frage gestellt. Auch wenn ich nie eine besonders intensive Beziehung zum Glauben und zur Kirche aufgebaut habe, in diesem einen Punkt bin ich ihr gefolgt. Ich habe bis heute, soweit es mir möglich war, ein rechtschaffenes Leben geführt und nie daran gezweifelt, dass mein Leben nach meinem Tod eine Fortsetzung erfährt.“
„Nie gezweifelt?! Wirklich nicht. Was sagt dein Körper dir gerade?“
„Ich spüre ein Druck an meinem Arm. Es ist, als würde mich jemand gegen meinen Willen festhalten. Und da ist ein unendlicher Schmerz, eine Traurigkeit, eine Nostalgie.“
„Jetzt zitterst du.“
„Ja und mir wird ganz kalt.“
„Woran erinnert dich dein Schmerz?“
Hilfesuchend sah sich Aloisius um. Über ihm kreiste einer dieser Aasgeier. Verwirrt sah er zu Boden und entdeckte eine Vogelfeder. Er beugte sich herab und ergriff sie.
„Mein Schmerz erinnert mich an meinen Großvater. Er ist gestorben, da war ich gerade einmal fünf Jahre alt. Ich habe damals viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht. Mein Großvater hatte eine Taubenzucht.“
Sanft ließ Aloisius die Feder durch Daumen und Zeigefinger gleiten.
„Als er dann erkrankte, wurde schnell klar, dass er nicht mehr lange zu leben haben würde. Wir haben lange Spaziergänge durch die Felder gemacht.“
„Und dabei wird dir dein Großvater so manche Geschichte über das Leben erzählt haben.“
„Woher weißt du das.“
„Ich stelle es mir so vor.“
„Du hast vermutlich recht. Auch wenn ich mich an Einzelheiten nicht erinnern kann, so ist mir eine Situation doch gut in Erinnerung. Eines Tages kam ich zu meinem Großvater in den Schuppen, in dem sich die Käfige für die Tauben befanden. Mein Großvater hielt eine tote Taube in der Hand. Es war seine Lieblingstaube, die gestorben war. Er war sehr traurig darüber und wirkte gleichzeitig irgendwie gefasst. An diesem Tag haben wir lange vor dem Schuppen in der Sonne gesessen. Neugierig wollte ich wissen, ob es auch einen Himmel für Tauben gäbe. Lachend antwortete mir mein Großvater daraufhin, dass es diesen weder für Menschen noch für Tauben gäbe. Spontan muss ich zu weinen begonnen haben, worauf mein Großvater mich fest in den Arm nahm und sagte: So traurig es sein mag, dass alles einmal zu einem Ende kommt, dass Menschen sterben, die man besonders lieb hat, so ist jedem Tag unseres Lebens etwas Kostbares vorbehalten. Dies zu erleben, darauf kommt es allein an. Mein Junge, ich will dich nicht wie Oma mit dem lieben Gott und dem Himmel löchern. Lass uns, solange ich kann, die Zeit miteinander genießen und auskosten.“
Für einen Moment wurde Aloisius Zittern heftiger. Dann entspannte er sich.
„Seltsam, mit einem Mal wird mir ganz warm.“
„Spür nochmals in dich hinein. Was fühlst du?“
„Die Unruhe über die Erkenntnis meiner Sterblichkeit, die mir vorhin noch den Atem genommen hat, ist gewichen. Ich spüre jede Zelle meines Körpers und dies ist wunderbar.“
Eine Pause trat ein, in der beide Männer ziellos vor sich hinstarrten.

„Da wird Heulen und Zähneklappern sein.“
Verwundert sah Aloisius den Alten an.
„Wovon redest du?“
„Bist du wirklich so unkundig?! Erinnerst du dich nicht an die Rede jenes alten Meisters, in der er vom Reich des Lebens spricht?“
„Vage.“
„Darin redet er vom Herrn eines Hauses, dessen Tür eines Tages verschlossen ist, so dass keiner mehr hineinkommt. Über all die Jahrhunderte haben die Menschen diese Rede so gründlich missverstanden. Oder soll ich sagen, sie haben sie umgedeutet und damit ihr eigenes Leben abgewertet. Und alles nur, um ein künftig Erdachtes in den Blick zu nehmen.“
Verschreckt sah Aloisius auf.
„In mir rührt sich wieder ein leichtes Zittern.“
„Du hast einen weisen Körper. Er hat mehr Verstand, als du ihm bis heute zugesprochen hast. Es ist Zeit, deine Sicht über ihn zu revidieren. Höre auf deinen Körper! Er hat dir viel zu sagen. Vergiss eines nicht: Dein Körper steht immer mitten im Leben. Dein Geist, dein Verstand, auf den du so sehr baust, ist permanent bemüht, alle körperlichen Regungen zu unterdrücken. Bist zu dem Tag, an dem du, um das Bild nochmals aufzugreifen, ‚ins Haus gelangen möchtest‘ und dir das Hineintreten verwehrt ist. Für jeden Körper gibt es den Augenblick des Zitterns, kein Augenblick in einer fernen Zukunft. Ein Augenblick im hier und jetzt. Ihn zu übergehen kann fatale Folgen haben.“
„Dann wäre die Mahnung des alten Meisters nichts anderes als der weise Rat, heute ins Haus des Lebens zu treten?!“
„… und diesen Impuls nicht zu unterdrücken.“
„Und das Zittern so etwas wie der freundliche Weckruf meines Körpers: Achtung, du befindest dich in einer bedrohlichen Situation.  Sei wachsam!
„Richtig. Es geht im Grunde darum, durch eine bedrohliche Situation mit Hilfe einer Art Transformation hindurchzuschreiten und damit zurück ins Leben zu finden. Ich könnte auch sagen, wieder in Einklang mit sich und der Welt zu kommen. Dies ist durch kein noch so verlockendes Versprechen  zu kompensieren.“
Aloisius war sichtlich berührt.

„Ich danke meinem Körper, der so weise ist, ohne Worte zu mir zu reden.“