Aloisius sah stumm vor sich hin. Das Gespräch mit dem Alten hatte ihn sehr aufgewühlt. In Gedanken schüttelte er den Kopf.
„Kann es sein, dass dein Kopf dir gerade meldet: Sei vorsichtig! Gib nicht einfach alle Erkenntnisse deines Lebens preis!“
Mit weit geöffneten Augen sah Aloisius den Alten an.
„Hab ich also recht?“
Wortloses Achselzucken.
Am Pulsieren der Halsschlagader nahm der Alte wahr, dass in Aloisius ein Kampf zwischen Kopf und Körper stattfand.
„Ich …“
Eine endlose Pause folgte, in der der Alte wie gewohnt seine Ruhe bewahrte.
„Mir ist es kaum möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich spüre, wie etwas mich hin und her reißt. Eine Art Kampf. Mir ist gleichzeitig heiß und kalt. Vielleicht ist es besser, wir setzen unseren Weg fort.“
„Halte stand“, entfuhr dem Alten ein kaum hörbares Raunen.
„Es ist spät geworden und wir werden heute hier an dieser Stelle unser Nachtlager aufschlagen.“
Aloisius ging auf das zuletzt Gesagte nicht weiter ein.
„Ohne mich konkret an etwas zu erinnern, habe ich das Gefühl, körperlich etwas Bekanntes zu spüren. Eine Art Diffusität.“
Während er mit den Füßen auf dem Boden zu scharren begann, fuchtelte er mit seinen Armen wie wild um sich.
„In der Vergangenheit habe ich jede Art von Diffusität gehasst. Sie hat mir Angst gemacht. In Situationen zu geraten, in denen ich die Kontrolle verlieren konnte …“
Hier unterbrach Aloisius sich selbst. So als müsse er gedanklich seinen eigenen Äußerungen nachgehen.
Der Alte sah, wie Aloisius sichtlich verwirrt um sich sah. Durch ein aufmunterndes Nicken versuchte er ihn, zum Weiterreden zu bewegen.
„Ich habe derlei Situationen immer schon gemieden. So sehr, dass ich mein gesamtes Leben durch ein Gerüst aus unverbrüchlichen Grunderkenntnissen zu sichern gesucht habe. Mich selbst und mein Leben zu kontrollieren, war nur folgerichtig.“
Das Scharren und Fuchteln setzten erneut ein.
„Jetzt aber, regt sich etwas. Es ist, als wolle mir mein Körper etwas sagen, während mein Geist noch darum ringt, alles im Griff zu behalten.“
„Vertrau deinem Körper! Er ist immer schon den Gedanken voraus. Intuitiv erfasst er alle Ereignisse, die uns widerfahren. Unser Nachdenken ist in der Tat ein Nach-Denken. Du bist an der Schwelle, mit der Grunderkenntnis der Neuzeit zu brechen. Du beginnst zu erfassen, was es heißt, Mensch zu sein.“
„Klar. Wir Menschen sind denkende Wesen.“
„Zweifelsohne. Wenngleich dieser Umstand das Sein nicht begründet, geht das vom Instinkt geleitete Fühlen doch dem Denken voran.“
„Willst du mir einreden, meinen Verstand zugunsten wirrer, diffuser Gefühle bei Seite zu schieben? Für wie töricht hältst du mich?“
„Nur ruhig, mein Lieber. Du bist auf dem Weg. Alles ist noch sehr neu und ungewohnt für dich. Vielleicht macht es dir sogar Angst.“
„Angst?! Keine Frage, mir schlottern vor Angst die Knie.“
„Und, willst du davoneilen?“
„Davoneilen? Dein Gerede macht mich ganz wirr. Das ist alles.“
„Oh, oh. Dein Verstand hat wieder ganz die Kontrolle gewonnen. Ich will jetzt nicht weiter insistieren. Der Zeitpunkt wird kommen, wo du dich ohne Furcht und Zittern deinem Körper und all seinen Regungen vertrauensvoll überlassen kannst. Du wirst schon bald die Erfahrung machen, wie nah er dem ureigensten Kern deines Wesens verbunden ist. Merke dir: Mit deinem Körper kommst du überall hin, mit deinem Verstand nicht.“
Irritiert schüttelte Aloisius den Kopf.
„Vielleicht kann ich einen Gedanken unseres letzten Gespräches nochmals aufgreifen. Du erinnerst dich, was ich über das Gefangensein gesagt habe?“
„Vage. Ich bin im Augenblick zu durcheinander. Nur so viel: Gefangensein als Ausdruck eines inneren Gemütszustandes, dem wir durch angenehme Gedanken zu entkommen versuchen.“
„Recht so. Ohne deinen Körper weiter zu Wort kommen zu lassen, können wir dennoch im Nach-Denken etwas von dem zu erfassen versuchen, was in uns vorgeht, wenn unser Körper uns zur Vorsicht anhält.“
„Anhält. Mein Körper hält mich an. Willst du sagen, er navigiert mich gleichsam durch schwieriges Terrain?“
„So könnte man dies in einem übertragenen Sinne durchaus sagen. Noch hältst du den Kopf für die maßgebliche Schaltstelle. Vergiss jedoch nicht, dass du in ein zweites Gehirn in dir trägst!“
„Zweites Gehirn? Ich verstehe nicht, was du mir gerade begreiflich machen willst.“
„Ich erspare dir die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge. Sie führen gerade nicht weiter und lenken eher ab. Konzentrieren wir uns auf den Moment, indem unser Körper durch das andere Gehirn uns anhält. Bislang hat dein Verstand, wie du mir sicherlich zustimmen wirst, in solchen Augenblicken die Regie übernommen, ohne weiter auf den Körper zu hören, hat dein Denken dich schnell wieder in gewohnte und erlernte Zusammenhänge gedrängt. Eine Art Bewältigung, die im Grunde nichts anderes als ein permanenter Kontrollvorgang war und immer noch ist.“
Aloisius sah den Alten fragend an.
„Wenn es dir möglich ist, dann halte dich zurück. Versuche, meinen Gedanken zu folgen, ohne das Gefühl zu haben, du müsstest dich sogleich in eine Art Abwehrstellung bringen. Von ihnen geht keine Gefahr aus und es ist an dir, sie später, wenn dir danach ist, zu vergessen.“
Einem inneren Impuls folgend, begann Aloisius den Kopf zu schütteln, hielt dann aber inne und nickte dem Alten zu.
„Nachfolge heißt, aus dem Schatten des Verstandes heraustreten.“
„Was soll das nun wieder. Willst du mich völlig durcheinander bringen. Kannst du nicht bei einem Gedanken bleiben. Es ging doch gerade noch darum, dass unser Körper uns sozusagen anhält.“
„Und dies geschieht vor allem darum, damit wir aus dem Schatten des Verstandes heraustreten.“
„Ich kann dir nicht folgen.“
Aloisius musste über seine eigenen Worte schmunzeln.
„Du sagst es. Wenn du mir nicht folgen kannst, wenn du in einer konkreten Situation so herausgefordert bist, dass deine Gedanken einer gegenwärtigen Herausforderung nicht mehr folgen können, ist, der Zeitpunkt gekommen, aus dem Schatten der Vergangenheit herauszutreten. Der alte Meister hat dies Nachfolge genannt. Dies geschieht, indem wir uns unserem Körper anvertrauen. Der Verstand will uns stattdessen glauben machen, mehr des Vertrauten würde uns retten.“
„Retten?“
„Vielleicht ist dies etwas dramatisch formuliert. Und doch geht es in der Tat um das eigene Überleben. Das andere Sein, von dem der alte Meister immer gesprochen hat, nimmt seinen Ursprung in der Erkenntnis, dass der Körper dem Geist vorangeht. Den Regungen des eigenen Körpers zu folgen ist keine Laune der Natur, kein überkommenes Verhalten der evolutionären Entwicklung des Menschen, dass er längst hinter sich gelassen hat. Dem Körper nach-zu-folgen ist eine weise Entscheidung, dient unserem Überleben und verbindet uns auf geheimnisvolle Weise mit dem, was immer schon war und sein wird, wenn es uns längst nicht mehr gibt, das heißt in der heute manifesten Erscheinungsform.“
Aloisius musste tief Luft holen.
„Im Einklang mit seinem Körper zu leben heißt, in die Geschichte des Seins einzutauchen und an ihr Anteil zu nehmen. Teil eines weiteren Zusammenhangs zu sein, nimmt dir nichts von deiner Einzigartigkeit. Und jeder Versuch, seine Einmaligkeit, durch strikte Herrschaft des eigenen Willens unter Beweis zu stellen ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wie ich schon sagte, gedanklich magst du Berge versetzen, der Körper ist es jedoch, der dich hinaufträgt und von dort oben in die Weite des Seins schauen lässt.“