Ich lausche dem Feuer des Herzens XXIV

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Sein Geist begann sich in die entlegensten Windungen seines Körpers zu verstecken, so als müsse er nur weit genug in sich hineinschreiten, um der Welt, die über ihm hereinzubrechen schien, zu enteilen.
Ein Rütteln erfasste seinen Körper, Regungen von unbekannter Dimension entfalteten sich. Er spürte eine Gänsehaut in sich aufsteigen, wie Wogen des Meeres, die über eine zerklüftete Küste hereinbrechen.
Letzte Fetzen wortloser Gedanken irrten ziellos umher.
Für einige Zeit vagabundierte sein ganzes Sein in einer anderen entwicklungsgeschichtlichen Phase umher, jener Zeit, die weder klare Gedanken kannte, noch um die Bedeutung und die Wirkung gefasster Sprache wusste. Er war erfüllt von einer unermesslichen Klarheit. Etwas in ihm verlor Kontur und war dabei sich gänzlich aufzulösen.

Sein Körper entwickelte von außen betrachtet keine passende Haltung. Reglos schien alles in ihm zusammen zu fallen, während jede Faser und Zelle seines Körpers bis zum letzten angespannt waren.
Dem Alten entging dies alles nicht. Nichts davon beunruhigte ihn. Er stand auf und ging umher, näherte sich einem Vorsprung, von wo er die Weite der vor ihm liegenden Ebene schauen konnte. Von Aloisius abgewandt nahm er nicht wahr, wie dieser seine Hände ausstreckte. Auf einem nahegelegenen Stein Platz nehmend wusste darum, wie wichtig es nun war, ihn für eine nicht absehbare Zeit sich selbst zu überlassen. Dort, wo dieser sich nun befand, konnte er ihn nicht erreichen.

»Wo bin ich? Was ist mit mir?«, wollte Aloisius wissen, als er wieder zu sich kam und die Augen öffnete.
Als seine Worte flüchtig zu ihm drangen, saß der Alte immer noch auf dem Stein. Er wandte sich um.
»Und?«
Dies war zunächst alles, was er zu sagen wusste, als er sich ihm bedächtig annäherte.
Leicht verstört sah Aloisius in an.
»Und was?«
»Mir scheint, du warst einige Zeit nicht hier. Mehr kann ich nicht sagen.«
Aloisius schloss die Augen. Sein Geist hörte in sich hinein.
»Ich bin noch sprachlos. Das Einzige, was ich sagen kann: Ich bin von einem angenehmen Gefühl erfüllt. Ein Gefühl, was sich an keinen Gedanken binden lässt. Ein Gefühl, was mir allein mein Körper gewährt. Ich spüre Ruhe und Frieden von einer Tiefe, wie ich dies noch nie bewusst erlebt habe.«
»So, als seist du gerade erst auf die Welt gekommen?«
»Ich weiß nicht. Mir fehlt es hier an einer wirklichen Erinnerung. Aber es könnte sein. Irgendetwas ist anders, ohne dass ich sagen kann, was es ist. Ich fühle mich frei. Befreit?!«
»Hast du etwas hinter dir gelassen?«
»Mir ist so leicht, dass ich glauben könnte, die Schwere meines bisherigen Lebens, hinter mir gelassen zu haben. Das Sonderbare daran ist aber, dass ich dies sage, ohne dabei konkrete für mich sonst gewohnte klare Gedanken fassen und aussprechen zu können. Es ist, bitte lach mich nicht aus, als ob der Körper reden würde und mein Verstand mir gleichzeitig zu verstehen gibt, dass dies nicht möglich ist.«
»Bist du sicher?«
Aloisius sah den Alten verdutzt an und schüttelte energisch den Kopf.
»Wie soll das gehen? Erkläre es mir, wenn du magst!«
Der Alte antwortete nicht sogleich, so als wolle er Aloisius selbst Gelegenheit geben, eine eigene Antwort zu finden.
»Es bleibt nur das diffuse Gefühl wortloser Gedanken.«
»Wortlose Gedanken. Sieh an, du warst wirklich weit weg. Es ist nicht Vielen vergönnt, derlei Erfahrungen zu machen. Du hast erfasst, worüber wir vor Kurzem sprachen.«
»Wovon redest du?«
»Von den Gedanken, die den Empfindungen des Körpers nach-folgen.«
»Ich erinnere mich, aber verstehe den Zusammenhang gerade nicht so recht.«
»Als der große Meister seinerzeit umherzog und von den Grundfesten des Lebens erzählte, folgten viele Menschen ihm nach. Einige waren neugierig und wollten wissen, was es wirklich mit ihm und seiner Lehre auf sich hatte. Andere waren misstrauisch, argwöhnisch und hatte von Beginn seines Auftretens nichts anderes im Sinn, als ihm nach dem Leben zu trachten. Sie sahen ihre Macht und ihren Einfluss in Gefahr. Der große Meister sprach eines Tages die versammelte Menge an und begann, vom Wesen der Nachfolge zu reden.«
»Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach
»Ich sehe, du bist kundig, wenngleich ich nicht glaube, dass dir der wahre Sinn dieser Worte wirklich bekannt ist.«
»Aber sicher. Es ging ihm damals wie allen, die ihm bis auf den heutigen Tag folgen, darum, das eigene Leben für diese von ihm in vielen Reden umrissene höhere Sache, so will ich sie einmal nennen, zu opfern.«
»Ganz und gar nicht. In der Tradition derjenige, die seine Worte festgehalten und weitergeben haben, ist die tiefere Bedeutung eines Wortes nie so recht bedacht worden, fordert der große Meister doch die Anwesenden dazu auf, sein Kreuz auf sich zu nehmen
»Und, was willst du damit sagen. Er greift doch nur auf eine damals gängige Form der Todesstrafe zurück und du hast doch selbst gesagt, dass es einige gab, die ihm nach dem Leben trachteten. Für mich heißt dies nur, für eine höhere Sache bereit zu sein, bis zum Äußersten zu geben, vor keinen noch so unangenehmen Folgen zurückzuschrecken.«
»Und welchen Sinn soll es haben, sich selbst zu opfern und sein Leben zu verlieren? Wofür soll das gut sein und wem will ein toter Körper noch nutzen?«
Ratlos blickte Aloisius vor sich hin. Er wusste dem Alten nichts zu entgegnen.
»Sieh, mein Lieber, in meiner Sicht der Dinge wollte der große Meister auf einen der wichtigsten Umstände im Zusammenspiel zwischen Geist und Körper hinweisen: Die Bereitschaft körperliches Leiden, irritierende Empfindungen und Gefühle auszuhalten und anzunehmen. Der Geist jedoch war vom ersten Tage an, an dem er sich zum Sein des Menschen gesellt hat, immer bemüht, den Körper und all seine Regungen durch klare Gedankenkonstrukte zu beherrschen, oder soll ich sagen zu domestizieren, in einen Kerker zu sperren, der es dem Körper nicht mehr erlaubt, sich frei zu regen und zu fließen. Es geschehen nicht selten Dinge im Leben, deren Auswirkungen für den Körper unterschätzt werden. Dennoch wirken sie. Darum zu wissen, die von ihnen ausgelösten und spürbaren Schmerzen anzunehmen, darum ging es dem Alten Meister. Beantworte mir doch eine Frage: Warum führen die Schlussfolgerungen jener Menschen, die bis heute glauben, dem großen Meister zu folgen, allzu oft dazu, bleibendes Leiden und Schmerz in Kauf zu nehmen, anstatt dieser beiden anzunehmen, sie zu durchleben und eine Wandlung zu einem erneuerten Sein zu erfahren?«
Aloisius konnte nur wortlos mit den Achseln zucken.
»Mein Verdacht ist, dass es jene nie wirklich um das Leiden und den Schmerz von Menschen gegangen ist. Sie haben die Menschen mit haltlosen Aussagen vertröstet, gar betäubt.«
»Du meinst also, mein Körper weiß um ein tieferes Sein und ist bereit, wenn ich ihn gewähren lasse, mich durch schwierigste Augenblicke und Zeiten meines Lebens zu führen.«
»Wenn du ihn lässt. Und weil der große Meister darum wusste, wurde er zur Gefahr für all jene, die nur den Erhalt ihrer Macht und ihres Einflusses im Blick hatten. Einen Menschen zu lieben, kann darum auch nie bedeuten, ihn beherrschen zu wollen. Aber davon ein anderes Mal.«
Ohne weitere Worte wandte sich er Alte ab und schritt von dannen. Aloisius sah im nach, unfähig ihm zu folgen. Körper und Geist hatten noch nicht vollends wieder zueinander gefunden.