Ich lausche dem Feuer des Herzens XXV

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Am folgenden Tag machte der Alte keine Anstalten, den Weg wieder aufzunehmen.
»Hier ist ein guter Ort, um noch eine Zeit zu verweilen.«
Kommentarlos nahm Aloisius die Worte des Alten zur Kenntnis. Erschöpft vom zurückliegenden Tag war ihm nicht nach den Strapazen eines neuerlichen Marsches.

Gedankenverloren betrachtete Aloisius den Stumpf eines abgestorbenen Baumstammes. Sein Durchmesser wies darauf hin, dass es sich einst um ein mächtiges Exemplar seiner Gattung gehandelt haben musste. Die Rinde war überall aufgesprungen. Wind, Regen und die Kraft der Sonne hatten sichtbare Spuren hinterlassen. Der Anblick hatte etwas Schroffes.
Besonders beeindruckte ihn der Anblick zahlreicher Flechten. Sie hoben sich trotz ihrer blass graugrünen Färbung deutlich von der erbleichten Baumrinde ab. Irgendwann hatte er gehört, dass Flechten zu den langlebigsten Lebensformen gehören und viele hundert Jahre alt werden können. Auf einigen umherliegenden Steinen hatten sie sich ebenfalls ausgebreitet. Hier zeigten sie sich in einer teilweise fast leuchtend gelben Färbung.
»Faszinierend, in welcher Form und Ausprägung die Natur sich zeigt?«
Aloisius nickte dem Alten zu, der neben ihm Platz genommen hatte.
»Juan, ich bin stets aufs Neue geradezu ergriffen von ihrer vielfältigen Erscheinungsform. Ich kann mich gar nicht satt daran sehen. Und das Bezeichnende dabei ist, sie geraten erst in unser Sichtfeld, wenn wir bereit sind zu verweilen. Im Vorübereilen bleiben sie unbemerkt.«
»Wie so manch anderes im Leben, dessen wir erst dann gewahr werden, wenn wir uns die Zeit nehmen innezuhalten.«
»Ist dir darum daran gelegen, hier noch einige Zeit zu verweilen?«
»So kann man es sagen. Es gibt Dinge, die erschließen sich nur im Verweilen, manche sogar nur an besonders magischen Orten.«
»Ist dies so ein magischer Ort?«
Aloisius sah sich forschend um.
»Wer weiß, das wird sich noch zeigen. Magische Orte wandern. Sie haben keinen festen geographischen Standort. Vieles muss zusammenkommen, damit ein magischer Ort sich als solcher zeigt. Vielleicht ist es besser von einer magischen Zeit zu sprechen, einem Augenblick, dem etwas Magisches innewohnt. Dies trifft, das, was gemeint ist, besser.«
»Auch wenn ich mich wiederhole, ich kann dir gerade nicht folgen.«
»Bist du bereit für eine weitere Gedankenreise?«
»Nur zu. Der Baumstumpf, den ich gerade betrachtet habe, wird auch später noch da sein.«
Bevor der Alte mit seinen Ausführungen begann, holte er tief Luft.
»Ich fürchte, ich muss etwas ausholen. Als der große Meister seinerzeit von der magischen Zeit sprach, tat er dies auf sehr verborgene Weise. Nicht alle, die seine Rede hörten, verstanden, was er wirklich sagen wollte. Bis heute ist darum eine andere Lesart seiner Worte tradiert.«
»Das wundert mich nicht.«
»Es waren die engsten Vertrauten des Meisters, jene also, die schon lange zu seiner Gefolgschaft gehörten, manche unter ihnen, die der Meister selbst eingeladen hatte, ihm zu folgen. Es wird nicht recht klar, ob der Meister in jener Stunde wirklich voller düsterer Gedanken in Bezug auf die nahende Zukunft war, oder ob er vielmehr den Niedergang grundsätzlich für jeden kommen sah, der die Vorzeichen seiner Zeit nicht zu erkennen wusste. Wir haben unlängst von jenem Verhalten gesprochen, das jedem Menschen innewohnt: Macht zu erlangen und diese zu bewahren. Galt sie ursprünglich einmal dem natürlichen Instinkt zu überleben, hat sie sich irgendwann verselbständigt und hat Auswüchse entwickelt, die wir bis zum heutigen Tag kennen, allen voran die Habgier, die Gier mehr zu besitzen, als man wirklich zum Überleben braucht. Wo der Same der Habgier aufgeht, greift der Mensch zu den abscheulichsten Mitteln. Wie viel Not und Elend dadurch über die Welt hereingebrochen ist, brauche ich nicht auszuführen.«
Aloisius schüttelte den Kopf.
»Bis heute werden jene belächelt, die sich in ihrem Leben mit Wenigen, dem Notwendigen möchte ich sagen, zufriedengeben. Sie zeigen uns auf eindrückliche Weise, dass man nicht selbstlos leben muss, wohl aber mit der nötigen Achtsamkeit sich selbst und allem im Leben gegenüber. Der gierige Mensch jedoch weiß um die Gefahr seiner Gier nicht. Er glaubt jeden Tag neu, Zeit zu haben. Es gibt vor und redet sich ein, bei entsprechenden Warnzeichen rechtzeitig einlenken zu können. Wenngleich in der Auslegungsgeschichte jener Worte des Meisters das Hauptaugenmerk auf jene Worte von den Vorzeichen gerichtet wurde, trat dabei wieder einmal der Kern seine Aussage in den Hintergrund.«
»Kern der Aussage?«
»Ja, jenes »Seid wachsam!«?
»Er forderte also zur Wachsamkeit gegenüber den Zeichen auf, die für uns Menschen sichtbar werden.«
»So haben es viele verstehen wollen.«
Der Alte hielt kurz inne, fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.
»Ich will den tieferen Zusammenhang dieser vom Meister angesprochenen Wachsamkeit mit einem Beispiel erläutern. Für die meisten Krankheiten, die Menschen bekommen, gibt es mehr oder weniger eindeutige Vorzeichen. Ist der Erkrankte dann endlich willens, die Vorzeichen zu beachten und geht zum Arzt, ist es nicht selten zu spät. Um diesem Umstand seine schwerwiegenden und oft tödlichen Folgen zu nehmen, hat die moderne Medizin ein aufwändiges Instrumentarium der Vorsorge entwickelt. Unbeachtet bleibt in dieser Sicht von Krankheit ein maßgeblicher Gesichtspunkt: Welchen Einfluss habe ich durch meine Haltung zum Leben auf meine Gesundheit? Der Meister wusste schon damals eines nur zu gut: Es ist das Eine auf Vorzeichen zu achten, etwas Anderes aber, mögliche Vorzeichen durch eine entsprechende Haltung dem Leben gegenüber gar nicht erst entstehen zu lassen. Wachsam zu sein, heißt darum für ihn in jedem Augenblick des Lebens achtsam und maßvoll das zu tun, was das Überleben eines Tag sichert. Trügerisch wird es, wenn der Mensch glaubt, bei auftretenden Vorzeichen noch Zeit zum Handeln zu haben. Wer sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Feld befindet, wird keine Zeit mehr haben, nach Hause zu eilen und sich einen Mantel gegen das aufziehende Unwetter zu holen. Viele Menschen glauben aber gerade dies und sind darum erst bereit entsprechend zu handeln, wenn sich die ersten Vorzeichen zeigen. Der gierige Mensch hat stets den Eindruck, mit den Vorzeichen der Folgen seiner Gier noch umgehen zu können.«
»Und wann dieser Tag, oder diese Stunde kommt, wo die Folgen der Gier über jemandem zusammenstürzen, die weiß keiner.«
Erstaunt und erfreut zugleich über die eigenen Worte erfüllte Aloisius ein Strahlen.
»Nein Tag und Stunde kennt niemand. Hinterher geben sich viele zwar als einsichtig und bekennen »Es gab doch Vorzeichen. Ich habe sie selbst gesehen.« Aber dies Bekenntnis nützt niemandem mehr. Wichtiger wäre eine Haltung der Achtsamkeit gewesen, die allem Verhalten vorweg geht und in den Blick nimmt, was wirklich für das eigene Überleben unverzichtbar ist. Augenblicke, in denen diese Einsicht in wirklichen Lebensbezügen erfahrbar wird, sind magische Augenblicke.«
Hier unterbrach der Alte seine Rede. Er griff nach einem kleinen Ast und begann auf dem Boden nicht entzifferbare Zeichen zu ritzen.

»Habt Acht auf euch selbst!«
Wie Pfeile schossen die Worte des Alten durch die Luft und trafen Aloisius ins Mark.
»In der Gier und Maßlosigkeit greift der Mensch zu den Sternen.«
»… und nimmt dabei Schaden an seiner Seele.«
Der Alte richtete seinen Blick auf und fixierte Aloisius mit funkelnden Augen, so als wolle sein Blick diese Erkenntnis in ihn einbrennen.
»Die Verführer aller Zeiten versprechen dir, die Welt liege dir zu Füßen.«
»… wenn ich bereit bin, meine Seele zu verkaufen. Wahrhaft düstere Zeiten erwarten den, der sich darauf einlässt.«
»Aloisius, betrachte nochmals die Flechten auf dem Baumstamm. Viele halten sie für schmarotzende Wesen. Sie leben aber von ihrem Wirt und ihre Gier wäre ihr sicherer Tod. Dieses Urprinzip des Lebens schiebt der Mensch gerne beiseite und verliert aus dem Blick, was ihn am Leben erhält. Dem von Gier befreiten Menschen offenbart sich das Leben jedoch als ein Ort voller magischer Augenblicke. Die gilt es, zu bewahren. Und darum: Sei wachsam!«
Aloisius erhob sich, klatschte einige Male in die Hände und begann sich im Tanz zu drehen.
»Ein magischer Ort! Ein wahrhaft magischer Augenblick.«