Die Sonne stand hoch am Himmel, als der Alte Aloisius einlud, sich zu ihm in den Schatten zu setzen.
„Wir sprachen kürzlich vom Verführer.“
„Nicht direkt, Juan. Du sprachst allgemein von den Verführern, die zu allen Zeiten die Menschen mit ihren Versprechungen in den Bann gezogen haben. Nicht mehr als ein Zeichen dafür, wie leicht der Mensch zu beeinflussen ist.“
„Aloisius, lass mich eine Weile über den Verführer sprechen. Und ich will dabei einmal so tun, als ob es ihn gäbe. Ich meine als Person, wie die Menschen in alter Zeit dies glaubten und manche es heute noch für gegeben ansehen. Es ist einfacher für mich, dem Wesen der Verführung auf den Grund zu gehen, wenn ich vom Verführer spreche.“
„Wesen der Verführung?“
„Ich kann sie auch als Eigenart bezeichnen. In jedem Fall geht es mir darum, zu verdeutlichen, wie der Verführer in uns wirkt und – vielleicht ist dies nun viel entscheidender – was die Menschen aus ihr wider besseres Wissen gemacht haben.“
„Mir fällt auf, dass deine Meinung von uns Menschen nicht die beste ist.“
Der Alte machte mit den Händen eine beschwichtigende Geste.
„Im Allgemeinen nicht, aber in grundsätzlichen Dingen sehr wohl. Siehe, bei Verführung denken wir allzu sehr an den Umstand, dass uns jemand zu etwas verführen will, was nicht gut für uns ist. Nun scheint mir aber, gerade dies weniger bedeutsam zu sein.“
„Nicht? Was dann?“
„Die Verführung besteht für einen selbst nicht darin, etwas zu tun, sondern etwas zu unterlassen.“
„Zu unterlassen?“
Der Alte ging nicht weiter auf Aloisius Frage ein und fuhr fort.
„Von je her erscheint der Verführer als Widersacher des Ewigen. Er hat nur Schlechtes im Sinn und will die Menschen dazu bewegen, Dinge zu tun, die in den Augen vieler verwerflich erscheinen. Handelt jemand wider die allgemeinen Verhaltensnormen, so kann man selbst noch heute hören „Er ist von Sinnen.“ oder „Der Widersacher hat ihn verführt.“ Um andere vor Schlechten oder unguten Erfahrungen zu bewahren, ersinnt sich der Mensch einen unendlichen Kanon an Verhaltenscodices und läuft damit in die eigene Falle.“
„Falle? Bitte Juan, sprich nicht immer wieder in Rätseln!“
„Der Weg ins Glück führt nicht über eine Kette von Entsagungen. Es gibt so viele Menschen, die diesen Weg gegangen sind und am Ende doch vor sich selbst und ihrer Unzulänglichkeit kapitulieren mussten. Glaubst du wirklich, der Ewige wüsste nicht darum?“
„Ich habe keinen Zweifel, dass er darum weiß.“
„Vergegenwärtige dir in diesem Zusammenhang einmal all das, was dich dem, was du zu tun bereit bist, leitet und antreibt und mache dir gleichzeitig klar, von was du dich fernzuhalten versuchst. Was ist es, was dir das Leben wirklich schwer macht? Ist es das, was du zu tun bereit bist, oder doch eher das, was du glaubst von dir fernhalten zu müssen?“
„Zweiteres. Ich brauche darüber nicht lange nachzudenken. Ist es dieser Umstand, der dich zu deiner kühnen These veranlasst hat?“
„Ob es eine kühne These ist, das magst du selbst beurteilen. Ich spreche allein davon, was ich in unzähligen Gesprächen gehört habe. So oft habe ich den Satz vernommen „Es fällt mir so schwer, das, was mir eine innere Stimme nicht zu tun rät, zu übergehen. Irgendetwas sagt mir zwar „Lass es, handle so, wie es allgemein als gut angesehen wird.“ Und die Verführung ist groß, diesem Rat zu folgen. Gleichzeitig rebelliert etwas.“ Kannst du mir folgen.“
„Ich denke schon, wenngleich ich bisher genau dieser warnenden Stimme gefolgt bin.“
„Ich weiß. Du stehst mit diesem Verhalten nicht alleine da. Und es bereitet mir große Sorge. Denn es bringt dich ab, vom Weg ins Glück, so möchte ich ihn einmal bezeichnen.“
Für einen Augenblick leuchteten Aloisius Augen auf.
„Wenn ich darüber nachdenke, dann bestand die größte Herausforderung auf meiner Reise, nicht länger etwas Gewohntes zu tun und in Folge dessen aufs Neue der inneren Stimme zu widerstehen. Wie sehr kämpfte ich in jenen Momenten, in denen mir meine innere Stimme klar vor Augen führte, was als nächstes zu tun sei und ich dennoch im Begriff wahr es zu unterlassen. Aus lauter Angst vor möglichen Folgen, war ich geneigt, davon abzulassen.“
Der Alte nickte vehement.
„Es freut mich, dass du selbst von Angst sprichst. Ist sie doch nicht mehr als der Trumpf des Verführers, der meist sticht und uns einlenken lässt. Was alles ist je ungetan geblieben, wurde nie ausgesprochen. Und dies nur aus Angst vor möglichen Folgen. Mit dieser Angst kann ich großen Einfluss auf Menschen ausüben. Ich kann ihnen so große Angst einflößen, dass sie handlungsunfähig werden. Am Ende, und dies ist eine Ironie des Seins, frohlockt der so in seine Schranke Gewiesene gar und freut sich an seiner Mäßigung.“
„Der Verführer, so lässt sich daraus folgern, dient trefflich als Dompteur einer aus den Fugen zu geratenen Meute. Kein Wunder, dass er in den Augen jener, die Macht haben und sie erhalten wollen so hoch im Kurs war und ist.“
„Ist, mein Lieber, wir können nicht davon ausgehen, dass sich daran etwas ändern wird. Zu tief steckt der Stachel der Verführung.“
Plötzlich wurde Aloisius von einem Gedanken durchzuckt.
„Juan, kannst du mir eine Frage ehrlich beantworten?.“
„Nur zu!“
„Hatte dein Verschwinden keinen anderen Sinn, als mich zum Handeln zu verführen und gerade der Verführung es nicht zu tun und mich meinem Schicksal zu überlassen, zu widerstehen?“
„So kann man es sagen. Du hast wie einst der große Meister eine schwere Zeit durchgemacht. Ich war dir immer nah und konnte sehen, wie du ein ums andere Mal kurz davor warst, aufzugeben. Der Verführer hat gute Arbeit geleistet. Er hat dich zu den Tieren geführt und dich unter ihnen hausen lassen. Aber selbst diese Prüfung hast du bestanden.“
„Etwas in mir hat sich verändert.“
„Vielleicht bist du dabei, dein eigenes Maß zu finden.“
Aloisius begann zu strahlen.
„Lass mich dir noch eine Geschichte erzählen:
Einst kam ein Schüler zum großen Meister und fragte ihn:
„Meister, wie werde ich Herr über meine Begierden?“
„Begierden?“
„Ja, all das, was mich vom Pfad des wahren Seins abbringt.“
Der Meister schaute ihn lange und verständnisvoll an und entgegnete:
„Sie die Blume dort. Ist sie nicht wunderbar und von einer leuchtenden Farbe?“
Der Schüler nickte.
„Wärst du im Wesen gerne dieser Blume gleich?
„Nichts lieber als das.“
„Dann habe keine Scheu, dass zu begehren, was dich wachsen und blühen lässt.«