Ich lausche dem Feuer des Herzens XXVIII

OhneTitel

»Lass uns nun über einen weiteren höchst bedeutsamen Aspekt der Verführung sprechen. Jener, der nicht selten dazu führt, jenes, was euch deine innere Stimme rät, zurückzustellen. Im Grunde seid ihr Zweibeiner immer noch eine auf den Bäumen hausende Horde.«
»Komm mir bitte nicht so. Ich gehe zwar davon aus, dass unserem heutigen Sein als Menschen eine lange Entwicklungsgeschichte vorweg geht, aber uns unterscheidet heute weit mehr von anderen Primaten, als uns verbindet.«
»Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Was ich hervorheben möchte, ist allein der Umstand, dass der Mensch heute noch ein Herdentier ist. Darf ich dies so sagen?«
»Wenn es dich glücklich macht?«
»Es muss mich nicht glücklich machen. Vielleicht kannst du mir in diesem Punkt zustimmen: Das Leben des Menschen ist auf Gemeinschaft, auf ein Leben mit anderen angelegt?«
»Ich stimme dir zu, wenngleich es Ausnahmen gibt.«
»Im Menschen ist der Grundinstinkt verankert, einer Gemeinschaft anzugehören, die vor allem eine Funktion hat, die eigene Existenz zu sichern.«
»Ich kann dir folgen.«
»Im Bemühen, einer Gemeinschaft anzugehören, ist ein Grunddilemma verankert. Jeder Mensch zahlt für das Dazugehören zu kleineren oder größeren Gemeinschaft einen bisweilen hohen Preis. Er ist herausgefordert, eigene persönliche Interessen denen einer Gemeinschaft unterzuordnen. Und bisweilen geschieht es wie jenem, der einst dem großen Meister folgte. Statt sich selbst und seinem Meister treu zu bleiben, leugnet dieser drei Mal, zur Gefolgschaft des Meisters dazuzugehören.«
»Auch hier war die Angst vor den Folgen wohl ausschlaggebend. Ausgrenzung und Ausschluss aus der Gemeinschaft fürchten bis heute meisten.«
»Aloisius!«
Der Alte sah ihn mit herausforderndem Blick an tief in die Augen.
»Würdest du heute Anhänger für deine in den letzten Tagen gemachten Erfahrungen und gewonnen Erkenntnisse finden?«
»Nur wenige, fürchte ich. Die Meisten würden es das Erfahrene für wenig gesellschaftsfähig halten.«
»Würde es dich daran hindern, anderen zu berichten?«
»Ich will mal sagen: Ich würde mich nicht auf den nächsten Marktplatz stellen. Guten Freunden würde ich schon von allem erzählen wollen. Obwohl, ich bin mir nicht sicher. Manche haben bei meinem Vorhaben, diese Reise zu machen, den Kopf geschüttelt. Es hat mich zum Teil sehr verärgert.«
»Du siehst die Verführung, etwas nicht zu tun oder zu sagen, ist so alltäglich, wie andere Verrichtungen.«
»… die mir ganz selbstverständlich erscheinen. Es macht mich geradezu betroffen, dass dies so ist.«
»Manche zerreißt dieser innere Widerspruch sehr.«
»Das kann ich mir vorstellen. Nein, ich kenne es.«
»Fühlst du dich in solchen Augenblicken einsam?«
»Einsam?«
»Ja, einsam.«
»Ich habe mich das bisher noch nie gefragt. Aber jetzt wo du mir diese Frage stellst, bekomme ich ein seltsames Gefühl im Magen … Ich muss zugeben, da ist eine große Leere. Soll ich sie Angst nennen, Angst ganz alleine und verlassen von anderen zu sein.«
»Und doch weißt du gar nicht, ob die Angst begründet ist. Nicht wahr?!«
Aloisius schüttelte den Kopf.
»Stell dich mal hin!«, ermunterte der Alte ihn.
Ohne zu zögern, stand er auf.
»Und nun stell dich so hin, dass du fest und sicher stehst! Schließe die Augen und spüre, wie der Untergrund dich trägt und deine Beine dir Standfestigkeit geben! … Nun stell dir vor, wie Menschen, die dir viel bedeuten, sich von dir abwenden und dich alleine stehen lassen!«
Der Alte hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr.
»Was spürst du?«
»Ein flaues Gefühl im Magen. Mir wir kalt.«
Aloisius begann zu zittern.
»Jetzt konzentriere dich wieder auf deine Beine. Du stehst sicher und fest. Kannst du es spüren?«
»Ja.«
»Und verändert sich nun etwas an deinem Körpergefühl?«
»Das flaue Gefühl im Magen ist verschwunden und mir wird wieder warm.«
»Halt diese Erfahrung fest. Dein Körper trägt dich.«
Aloisius stand eine Weile mit geschlossenen Augen da, während er von einer großen Leichtigkeit erfüllt war. Als er die Augen wieder öffnete, sah er den Alten dennoch skeptisch an.
»Oh, oh. Dein Kopf meldet sich.«
»Es scheint mir zu einfach gegriffen. Derlei Erfahrungen wie gerade sind kaum in der Lage, mich vor weitere Rückschlägen zu bewahren. Es ist doch eher wahrscheinlich, dass ich auch weiterhin von meinem erkannten und für gut befundenen Weg abkommen werde. Wer will schon alleine durchs Leben gehen?«
»So sehr ich dich verstehen kann, so sehr möchte ich dich dennoch bitten, die gerade gemachte Erfahrung nicht einfach beiseitezuschieben. Denn eines scheint gewiss, mag der Kopf dich auch noch so hartnäckig auffordern, den Erwartungen anderer Folge zu leisten, dein Körper ist und bleibt es, der dich vor »wirklichen« Gefahren warnen wird.«
»Jetzt bist du dabei, die Warnungen des Kopfes in den Wind zu schlagen.«
»Nur vermeintlich. Bedenke, mir geht es nicht darum, dir ein Sein in Gemeinschaft auszureden. Es wird auch fortan Grundlage deines Seins bleiben. Erinnere dich nur, wie du dich in den zurückliegenden Tagen des Alleinseins immer wieder nach mir umgeschaut hast.«
Der Alter unterbrach sich selbst und griff zu einem Stock.
»Sieh diesen Stock. Er ist in sich stabil und doch wird er brechen, wenn man ihn zu sehr belastet. Fundamentaler als die Frage, ob ich den Erwartungen anderer entspreche, ist doch, ob ich dabei im Blick habe, wann ich Gefahr laufe zu brechen, um im Bild zu bleiben. Ohne andere Menschen würdest du heute weder leben, noch an dem Punkt deines Lebens sein, an dem du dich befindest. Geh mit diesem Umstand respektvoll um. Es hat nicht nur Fragwürdiges im Zusammenspiel mit anderen gegeben. Du bist ebenso oft in für dich bedrohlichen Situationen bewahrt worden. Dies darf jedoch nicht dazu führen, die Signalen, die dein Körper dir gibt, zu überhören. Auch dein Körper redet mit dir, wenngleich in einer Sprache ohne Worte.«
»Mir ist dies alles sehr abstrakt. Ich bin sehr unschlüssig, ob mir philosophische Erwägungen bei dem Meistern wichtiger Lebensaufgaben wirklich helfen.«
»Nun gut. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem das Nach-denken, doch deutlich an seine Grenzen gekommen ist. Du spürst es und das ist gut so. Halte auch diese Erfahrung fest. Dein Verstand ist sehr kostbar und doch und dies will stets bedacht sein, er ist im Grunde nicht mehr als ein …«
»… ein was?«, fiel Aloisius dem Alten ins Wort. »Du willst doch nicht behaupten, dass das markante Schaltzentrum unseres Seins nicht mehr als ein willkürlich organisierter Haufen von Zellen ist?«
»So weit möchte ich bei meiner Betrachtung nicht gehen. Meine Erfahrung lehrt mich jedoch, dass dieser mehr oder weniger organisierte Haufen von Zellen an seine Grenzen kommt. Dies jedenfalls habe ich in vielen Gespräche gehört. Ratlosigkeit, Desorientierung und anderes mehr sind kein Ergebnis mangelnden Verstandes. Oder?«
»Das habe ich nicht behauptet.«
»Komm, lass uns eine Pause einlegen. Bisweilen ist es gut, in die Stille zu gehen. Der große Meister hat diese nicht ohne Grund gesucht.«
»In der Ruhe liegt die Kraft
»Höre ich da einen Hauch Spott, aus deinen zitierten Worten. Lass es gut sein! Wir werden morgen in der Frühe zeitig aufbrechen. Unser Ziel wird ein weiterer magischer Ort sein.«
»Einverstanden. Mir ist auch nicht mehr nach Reden. Es reicht für heute.«