Ich lausche dem Feuer des Herzens XXX

OhneTitel

Aloisius Geist schwebte empor und ließ seine körperliche Hülle zurück. In seinem Geist vollzog sich eine Wandlung. Die zahlreichen Expeditionen in eine für ihn unbekannte Gedankenwelt hatten merkliche Spuren hinterlassen. Jetzt war der Geist eine große Verlassenheit erfüllt.
»Du kannst dich über den Körper erheben, du kannst in schwindelerregende Höhen emporsteigen, doch das Sein ohne ihn, deinen Körper, ist kein Sein. Ohne deinen Körper bist du tot.«
Dies dachte der Geist, während er seine Rückkehr ersehnte. Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke.
»Wenn ich ohne den Körper nicht sein kann, dann ist all meine Existenz an ihn gebunden. Ohne ihn, das heißt, wenn er nicht mehr ist, dann bin ich auch nicht mehr.«
Etwas wie ein Erschauern erfasste ihn, wenngleich ihm die körperliche Empfindung dazu fehlte.

»Was ist mit dir, mein Lieber?«
»Juan, mir war, als habe sich mein Geist von meinem Körper gelöst. Es war ein Gefühl grenzenloser Freiheit, über allen Dingen zu schweben. Und doch erfüllte mich eine ungeheure Traurigkeit.«
»Aloisius, wahrscheinlich hast du zum ersten Mal in deinem Leben den Wert deines Körpers in ganzer Tiefe erfasst. Ihr Menschen habt euch weit von ihm entfernt und betrachtet ihn meist nur noch als lästige Hülle. Dabei ist er so viel mehr für alle Tages deines Lebens.«
»Für alle Tage meines Lebens.«
Er wiederholte die Worte des Alten immer und immer wieder.
»Für alle Tage meines Lebens.«
»Für alle Tage meines Lebens.«
Dann hielt er inne, schwieg und sah mit leerem Blick vor sich hin.

Erst nach einer ganzen Weile nahm der Alte behutsam den Faden ihres Gespräches wieder auf.
»Das Wesen eines magischen Ortes besteht darin, dass du dem Ewigen ganz nahe kommen kannst. Oder sollte ich besser sagen, dass du das Sein des Ewigen in dir deutlich spüren kannst. Jede Manifestation des Seins, ob in der Natur, einer Pflanze oder in einem Lebewesen trägt das Sein des Ewigen ganz in sich. Mag eure Lebensdauer auch begrenzt sein, mag der Geist nach dem letzten Herzschlag schon bald sich auflösen, in eurem Sein gibt es nie ein Getrenntsein vom Ewigen. Alle zeitlichen Kategorien können die Weite eures Seins in der Gegenwart des Ewigen nicht ermessen.«
»Wie kommt es dann, dass die verfasste Kirche gerade hierum so viel Aufsehen macht. Eine Kirche ohne den Glauben an ein Leben nach dem Tod ist doch nicht vorstellbar.«
»Ich muss dir zustimmen. In meinen Augen ist dies der größte Irrglauben, den der menschliche Geist je hervorgebracht hat, ein sich Erheben über alles Manifeste in der Hoffnung, allem Irdische mit der Hilfe des Ewigen entfliehen zu können. Dem Ewigen, der in euch ist, kann keiner entkommen. Wohin auch?«
»Kein Wunder, dass die Menschen in alten Zeiten die Welt der Götter in der stofflichen Natur abgebildet sahen.«
»Sie haben sich früher ganz dem Sein des Ewigen anvertraut. Heute versuchen Forscher dem Ewigen in einer kleinen Region eures Gehirnes ein Platz zuzuordnen, während die Kirche die Unsterblichkeit der Seele hochhält und den Gläubigen an eine Existenz nach dem Tode offeriert. Sehr einfältig.«
»Einfältig?«
»Gewiss. Ist nicht ein Grundprinzip des Seins, das in allen stofflichen wie lebenden Formen angelegt ist, das der Transformation? Alles ist im Wandel, nichts ist für ewig und wenn nur im Ewigen.«
»Ich kann dir nicht widersprechen.«
»Wie soll es dann eine Seele geben, die unwandelbar ist und in alle Ewigkeit fort existiert?«
»Das scheint mir nicht möglich.«
»Und doch werden deine Zeitgenossen nicht müde darin, eben dieses zu behaupten. Dabei gibt es etwas Höheres als ein ungeteiltes Sein mit dem Ewigen und die fortlaufende Transformation in eine neue Form des Daseins?«
»Du willst mir aber nicht nahebringen, dass mein Sein irgendwann in die Existenz eines Grashalmes verwandelt wird?«
»Jetzt versucht dein Geist wieder, zu fassen, was nicht zu fassen ist. Etwas mehr Ehrfurcht vor dem Unergründbaren wäre geboten.«
»Ehrfurcht vor dem Unergründbaren?!«
»Ja. So wenig, wie du dich selbst ins Leben gerufen hast, so wenig ist es an dir, deinem Leben nach deinem Tod eine von dir gewünschte Wendung zu geben.«
»Das will ich doch gar nicht. Aber ich fand die Vorstellung von einem Weiterleben nach dem Tod gar nicht so unsympathisch. Wenngleich ich nun erkannt habe, dass mein Geist und mein Körper untrennbar verbunden sind. Eine Verwandlung scheint mir nur für beide denkbar … und damit wird mein Kadaver oder meine Asche Teil seiner Umgebung werden.«
»Willige einfach ein in das Unabdingbare. Dein Geist mag in Gedanken zwar Berge versetzen, dein Körper wird dich aber immer wieder zurück auf den Boden der Tatsachen bringen. Unabdingbar ist der Wandel allen Seins. Anstatt das zu beherzigen, wollt ihr stets das einmal für Gut Befundene bewahren – wobei sich trefflich darüber streiten ließe, worin es eigentlich besteht. Hast du diese Reise nicht auf dich genommen, um dem großen Meister zu begegnen.«
Aloisius nickte.
»Dann lausche dem Feuer deines Herzens.«
»Was meinst du damit?«
»Folge dem, was dein Körper dir rät. Alles hat seine Zeit. Vielleicht liegt darin eine der Grundweisheiten des Sein begründet. Dein Geist will dein Leben nach einem gedanklichen Konstrukt ordnen und gestalten. Dein Körper jedoch, weiß darum nicht, sondern will dich nur dazu bewegen, im Hier und Jetzt das Gebotene zu tun. Dies erkannte der große Meister einst und in die Mitte seines Lebens gerückt. So hat er gewusst, wann es an der Zeit war zu essen, sich anderen Menschen zuzuwenden, ein heilendes Wort auszusprechen, ihnen in den Begrenzungen ihres Alltags eine Tür für ein anderes Sein zu eröffnen oder sich einfach nur an der Vielfalt des Seins zu erfreuen. Die Welt kannte ihn nicht, wie er eins ums andere Mal am eigenen Leibe erkennen musste, bis zu jenem Tage, als man sich nicht anders zu helfen wusste und ihn ermordete. Später haben die Menschen ihn für ihre Zwecke eingesetzt und missbraucht. Damit haben sie dauerhaft das wahre Wesen seiner Person verschleiert. Dieser Schleier ist für dich gelüftet worden. Halte an dem Erkannten fest. Höre auf das Feuer in deinem Herzen.«
Bewegt sah Aloisius den Alten an. Seine Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Ergriffen davon, stieß er einen ohrenbetäubenden Schrei aus.
»Willkommen! Dies ist der Beginn eines neu geschenkten Lebens. Gehe behutsam mit diesem Geschenk um.«

Lange saßen Aloisius und der Alte an jenem Abend wortlos am Lagerfeuer. Erst als der Holzscheit zu einem kleinen Haufen glühender Reste zusammengefallen war, erhob der Alte erneut die Stimme.
»Aloisius, lass mich dir noch eine alte Geschichte erzählen.«
»Ich bin gespannt.«
»Höre!«
›Einst klopfte jemand an die Tür seines Freundes. Der rief von drinnen: ›Wer ist hier?‹ Dieser gab zur Antwort: ›Ich.‹ Da sprach der Freund: ›So sind wir also nicht geeint? Du willst du selbst sein. Gut. So geh! Bist du getrennt von mir, so Freund, versteh die Torheit deines armen, eigenen Ichs, das auf sich selbst besteht.‹ Darauf irrte der Arme durch zahlreiche Wüsten für ein Jahr, bis er des eigenen Ichs von Herzen müde geworden war. Verändert kehrte er zum Hause des Freundes zurück und klopfte von Neuem an die Tür. ›Wer ist’s, der da vor meiner Tür steht?‹ Er antworte: ›Du, Geliebter, stehst davor!‹ ›Nun, da du ich bist‹, sprach der Freund, ›so komm herein. Zwei schließt dieses enge Haus nicht ein.‹

Wieder trat eine längere Pause ein. Aloisius ging der Geschichte des Alten schweigend nach.

Als Aloisius sich an diesem Abend bereits zum Schlaf niedergelegt hatte, trat der Alte nochmals an seine Seite.
»Ich will mich von dir verabschieden. Morgen wirst du den Weg ohne mich fortsetzen. Ich werde dich nicht länger begleiten. Du bist reich an Gedanken und Erfahrungen und wirst gut ohne mich auskommen können. Bleib behütet!«
Die Worte des Alten trafen Aloisius ganz unvermittelt. Sein Geist wollte dagegen aufbegehren, während sein Körper im deutlich zu verstehen gab, Ruhe zu bewahren.

In jener Nacht stand Aloisius nochmals auf und sah in die Weite der  vom Mond  beschienenen Nacht. Irgendwann hob er die Hände und begann zu beten:
»Wie lange noch soll es zwischen mir und dir das Ich und Du geben, Ewiger? Hebe es zwischen uns auf, dass ich ganz in dir eingehe, dass ich Du werde!«