Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne durchfluteten sein Zimmer, als eine synthetische Stimme an sein Ohr drang: „Guten Morgen, in wenigen Sekunden ist es 6 Uhr und fünfzehn Minuten. Ich wünsche ihnen einen erfolgreichen Tag.“ Das digitale Rot ließ keine Zweifel aufkommen. Es war 6:15 Uhr. Die Ziffern seines Weckers setzten konstant und unbeirrbar ihren Abzählvorgang fort.
Seit geraumer Zeit lag er wach im Bett. Er war seiner Zeit stets voraus. Dies zeichnete ihn aus. Allein seinem bisweilen übertriebenem Hang, jede Unwägbarkeit auszuschließen, verdankte der Wecker noch seine Existenz.
Wie jeden Morgen schlug er die Decke zurück, richtete seinen Oberkörper im Bett auf und setzte streng einem Ritual folgend zunächst den linken dann den rechten Fuß auf den Boden. Mit schnellen kaum wahrnehmbaren Bewegungen entledigte er sich seiner Nachtgarderobe und befand sich schon auf dem Weg ins Bad. Während er noch mit der Pflege der Zähne beschäftigt war, erreicht das Duschwasser die gewünschte Temperatur.
Die all morgendliche Toilette war nichts anderes als eine immer wiederkehrende Abfolge konstanter Bewegungen. Das Einzige, was diese Konstanz durchbrach, war seine Marotte, an Tagen mit einer Primzahl auf die Rasur zu verzichten. Als er das Bad verließ, kam ihm aus der Küche der Duft frisch aufgebrühten Kaffees entgegen.
Kurze Zeit später saß er an seiner Frühstückstheke, in der linken Hand die Tageszeitung, in der rechten wechselnd Becher und Esslöffel. Die Theke war originalgetreu jener Bar nachempfunden, an der er Abend für Abend einige seiner schwersten Stunden im Dunst des Alkohols zu ertränken gesucht hatte.
Vor ihm flimmerte auf einer Anrichte der Fernseher. Die Morgennachrichten zeigten die neuesten Ereignisse der vergangenen Stunden. Der Ton des Fernsehers war abgestellt. Die Fernbedienung lag gut positioniert neben der Kaffeetasse. Ein Tippen würde genügen, um den Ton zu aktivieren. Aus einem Fossil der achtziger Jahren ertönte der Klang eine Klaviersonate. Dieses stellte in der ansonsten auf neueste Technologien bedachten Umgebung einen weiteren Anachronismus dar.
Die Queen lächelte ihm gewohnt milde entgegen, als er einen weiteren Schluck Kaffee aus seinem Becher nahm. Wäre dieser nicht ein Andenken an seine Mutter gewesen, ein Geschenk von einer ihrer zahllosen Reisen, dann wäre dieser längst im Müll gelandet.
Es gab einige wenige Dinge in seinem Leben, von denen er sich aus purer Sentimentalität, die er konsequent aus seinem Leben auszuklammern bemüht war, einfach nicht trennen konnte. Dazu gehörte der Silberlöffel, Teil seines ersten Bestecks, dass er von seinem Patenonkel zur Taufe erhalten hatte. Mit ihm schaufelte er sein morgendliches Müsli in sich hinein.
Das Taxi war bereits bestellt. Es würde ihn zum Flughafen bringen. Das Flugticket lag neben dem gepackten Rucksack auf der Coach.
Anders, als es seinem Naturell entsprach, hatte er wenig Interesse entwickelt, die vor ihm liegende Reise minutiös zu planen. Hin- und Rückflug stellten die einzigen Fixpunkte in den kommenden Wochen dar.
Er erhob sich unruhig und durchquerte sein Appartement ziellos. Geistesabwesend trat er im Morgenmantel auf den Balkon.
Die Sonne stand als feurige Kugel am Morgenhimmel. Die Luft war lau. Fast sommerliche Temperaturen waren für den heutigen Tag angekündigt. Menschen und Autos zwängten sich seit geraumer Zeit durch die Schluchten der Häuser.
Für die nächsten Wochen würde er nicht mehr Teil dieses täglichen Spektakels sein, sich nicht über idiotische Autofahrer, verspätete U-Bahnen und hektische Passanten ärgern müssen.
Fast noch unwirklich erschien ihm das, was ihn erwartete.
Erinnerungsfetzen an den letzten Urlaub stiegen auf. Er lag mehr als 10 Jahre zurück, eine letzte gemeinsame Reise, bevor seine Frau wenige Tage später kommentarlos aus seinem Leben verschwand. Seither hatte er sich ganz und gar in die Arbeit gestürzt, fast alle sozialen Kontakte abgebrochen. Der Beruf wurde ihm alles.
„Andere haben noch Familie, du scheinst diese gegen die Arbeit eingetauscht zu haben. Kein Wunder, dass du alleine bist und es nie zu Kindern gebracht hast.“ Seine Mutter hatte die Trennung von seiner Frau nie ganz verwunden. Ihr bissigen Kommentare trafen ihn noch Jahre später wie die Spitze eines Giftpfeiles. Selbst die beschwichtigenden Entgegnungen seines Vaters konnten den empfundenen Schmerz kaum abmildern.
Seit einiger Zeit verbrachte er selbst die arbeitsfreien Tage in seinem Büro, das er geradezu wohnlich eingerichtet hatte. An der Wand stand eine Ausziehcoach, über die seine Kollegen gerne ihre Witze machten. Sogar einige durchaus dekorative Gegenstände hatten den Weg von seiner Wohnung in sein Büro gefunden und zierten nun die Wände. Kürzlich war er von einem Kunden auf ein Bild angesprochen worden. Es zeigte nicht mehr als einen schwarzen Fleck auf weißem Hintergrund. Bei näherem Hinsehen konnte man diesen als lässig hingeworfenen Versuch ausmachen, eine Art Kopfbedeckung darzustellen. Als große Kunst war es sicher nicht zu bezeichnen. Dennoch verfehlte dieses Bild nie seine Wirkung und verwickelte nicht selten den Betrachter in eine Diskussion über eine längst vergangene Epoche.
Vor wenigen Wochen war sein Vater einem Herzinfarkt erlegen. In den letzten Jahren hatte er kaum noch Zeit gefunden, ihn zu besuchen. Nach dem Tod der Mutter lebte er zurückgezogen auf dem Land und vertrieb sich den Tag mit der Pflege seines Gemüsegartens und der Haltung einiger Hühner. Ohne weitere soziale Kontakte fristete er sein Dasein in einem entlegenen Ort, dessen Namen er sich nicht einmal merken konnte. Die wenigen Male, die er sich auf den Weg zu ihm machte, fuhr er geraume Zeit orientierungslos umher, bis er das weiß gekalkte Haus auf einer leichten Anhöhe wiedererkannte. Fragte jemand interessiert nach seinem Vater, war seine einsilbige Antwort „Er lebt dort draußen.“
Mit seinem Tod war er des letzten festen Sozialkontaktes beraubt. Dem ersten Erschrecken folgte eine bleibende Unruhe.
Bei der Trauerfeier seines Vaters sollte er einen Satz vernehmen, der ihn bis ins Mark erschütterte: „Erde zu Erde, Asche zu Asche.“ Es war ihm, als spräche der Pfarrer diese Worte gleichsam über sein Leben.
Noch am selben Tag buchte er die Reise. Seinem Vorgesetzten erklärte er fast beiläufig, er werde für einige Monate nicht zur Arbeit erscheinen und unbezahlten Urlaub nehmen. Er wolle verreisen. Bevor sein Chef überhaupt reagieren konnte, hatte er auf seinem Absatz kehrtgemacht. Gedanken an möglichen Konsequenzen seines spontanen Handelns vermochten nicht in sein Bewusstsein vorzudringen.