Ches Mütze III

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Die Nacht wollte nicht enden. Der Sonne hinterherzureisen brachte Stunden nicht enden wollender Dunkelheit mit sich.
Wie gebannt schaute er aus dem Fenster. Außer dem Aufflackern des Signallichtes auf der Tragfläche war nichts zu erkennen. Gleichwohl hatte die schwarze Nacht, die sich unter ihm bis in kaum vorstellbare Tiefen des Ozeans erstreckte, etwas Magisches.
Konnte es sein, dass er im Begriff war, mit seiner ganzen Existenz in einer Art schwarzem Loch zu versinken? War es das, was ihn hatte davoneilen lassen? Kommentarlos für eine Außenwelt, die sich längst daran gewöhnt hatte, dass er zu einer seltenen Gattung Mensch gehörte, die kaum mehr als die notwendige Anzahl an Worten verlor. Sein Dasein hing an einem seidenen Faden, der jeden Augenblick zu reißen drohte, war in jenen Sog geraten, der ihn mit aller Kraft in die schwarze Tiefe zog. Und eines deutete sich an und wurde mehr und mehr zu Gewissheit. Ähnlich einem schwarzen Loch, würde er diesen Fall nicht überleben, ein letztes Aufleuchten, schwach, kaum wahrnehmbar, um schließlich ganz eins mit dieser nicht enden wollenden Schwärze zu werden.
Erhebt sich nicht alles Sein aus diesem Dunkel und kehrt irgendwann in dieses zurück? Diese Einsicht hatte etwas Erhellendes wie gleichzeitig Schauerliches an sich.
Zum ersten Mal in seinem Leben begriff er, das sein Widerstand gegen viele Dinge nur dem einen Umstand geschuldet waren: Er war außerstande zu akzeptieren, dass die wenigen Menschen, die es im Verlauf der letzten Jahre dann und wann noch mit ihm ausgehalten hatten, sich von ihm abgewandt hatten. Sein nicht enden wollender Versuch, das Sein in seinem Sinne zu biegen, hatte ihn nur folgerichtig in Isolation und Einsamkeit geführt. Seine Arbeit, war ihm zu mehr als nur ein täglicher Zeitvertreib. Es war die letzte Möglichkeit, sich dem Leben, gar sich selbst zu entziehen. Seine Frau hatte dieses Spiel irgendwann durchschaut und war noch im gleichen Moment, als sie dessen gewahr wurde, davongeeilt.

In jeder Nacht gibt es den Augenblick, in dem die Schwärze so dicht geworden ist, dass selbst der Gedanke an einen Sonnenstrahl des anbrechenden nächsten Morgens unvorstellbar wird. Dieser Moment kann, wenn man in der Lage ist, ihn bedingungslos anzunehmen, eine läuternde Wirkung haben. Er kann dazu führen, dass man das Ende seiner eigenen Existenz erfasst und annimmt.

Er gehörte bislang zu den Menschen, die Einsicht in die Endlichkeit des Seins mied. Stets waren es die anderen, die seinem Glück im Wege standen. Stets andere Umstände, die ihn daran hinderten, uneingeschränkt glücklich zu sein. So als sei das Glück eine verfügbare Masse, die man nach Belieben bis in alle Ewigkeit formen konnte. Nichts war für ihn unmöglich, wenn man es nur wollte.
Was würde sich verändern, wenn er bereit wäre, das Leben von seinem Ende her zu erfassen? Diesem Ende konnte er nicht entkommen. Und doch gab es für ihn keinen Grund, nicht davonzueilen, wenn jeder Tag neu mit seiner bleiernen Dunkelheit über ihm hereinbrach. Was würde es für einen Unterschied ausmachen, sich dem Leben mit seinen Unabänderlichkeiten zu stellen?
‚Ich ertrage diesen grauen Alltag mit dir nicht mehr‘, hatte seine Frau ihm an einem ihrer letzten Abende an den Kopf geworfen. ‚Und ich bin noch nicht so verrückt geworden, mir all das noch schön zu reden. Das bisschen Selbstachtung, was mir geblieben ist, macht es mir unmöglich, länger an deiner Seite dahinzuvegetieren.‘
Stets sah die Dinge so, wie er sie gerne hatte, wie sie am angenehmsten für ihn waren. Wenn seine Frau gehen musste, dann wollte er sie nicht aufhalten. Er musste sich ihrem nicht enden wollenden Sarkasmus entziehen und war gleichzeitig doch zu feige, den nächsten Schritt zu gehen.
‚Wenn es einen Nobelpreis für das Schönreden von Dingen gäbe, du hättest ihn längst gewonnen. Ich werde nicht länger, an deiner Seite zu sein. Den größten Scheißhaufen redest du noch gut. Merkst du nicht, was du anderen und dir selbst zumutest.‘
Seine Frau hatte bei einer ihrer letzten Auseinandersetzungen rasend vor Wut nach der Kaffeetasse gegriffen. Sie hatte ihn dicht verfehlt und war am Kühlschrank in Stücke zersprungen. Eine deutlich sichtbare Macke im weißen Blech würde bleibend daran erinnern.
Wie konnte er wirklich glauben, der Welt entkommen zu können. Sie kam täglich auf ihn zu. Zur Seite zu treten und zum Zuschauer zu werden, dies hatte er über die Jahre versucht. Er hatte sich aus allen Verfänglichkeiten, allen Verbindlichkeiten mehr und mehr herausgehalten. Am Ende war er zu einer einsamen und verbitterten Kreatur geworden, jemanden, den man mied. Zu lange hatte er gehofft, irgendwann, ja irgendwann wieder auf den fahrenden Zug des Lebens aufspringen zu können. Es war zu spät. Manchmal wurden ihm die Glieder so schwer, dass er kaum aufs Klo fand, um seine Notdurft zu verrichten. Von außen betrachtet hatte er es zu etwas gebracht. Innerlich moderte er vor sich hin. Es roch nach dem beißenden Gestank einer seit langem nicht ausgeleerten Mülltonne. Die Maden frohlockten und durchwühlten seine Gedärme.

In der Schule hatte ich mich nie weiter für Geschichte und Geographie interessiert. ‚Du gehörst einer geschichtslosen Generation an‘, hatte mein Vater mir häufig zu verstehen gegeben. Dies hinderte mich nicht daran, um so vehementer mit Worten für das Lebensrecht unterdrückter Menschen in anderen Kontinenten einzutreten und den Imperialismus der Amerikaner anzuprangern.
Gerade in dieser damals sehr bewegten Zeit war es en vogue, sich als Befreiungskämpfer im imperialistischen Nachkriegsdeutschland zu geben. Was immer das auch in einem vom Wohlstand umgebenden Land der Wirtschaftswunder bedeuten sollte. Wohl wissend, dass meist nicht mehr zu riskieren war als eine dicke Lippe, vielleicht eine Platzwunde oder Prellungen von prügelnden Polizeibeamten. Wurde man dann für eine Nacht wegen Landfriedenbruch festgesetzt, fand man sich in einer gut geheizten Zelle wieder.
Ich blätterte weiter. Eine weitere Aufnahme von Che. An seiner Seite eine sehr entschlossen blickende Tamara Bunge. Sie war eine der wenigen, die ihre gesicherte Existenz mit dem gefährlichen Leben als Guerillakämpferin im bolivianischen Dschungel eingetauscht hatte und später an der Seite Ches erschossen wurde. Ein ähnliches Ende nahm Monica Ertl, die Tochter des Kameramannes von Leni Riefenstahl, Hans Ertl. Sie erschoss 1972 in Hamburg den bolivianischen Konsul Quintanilla, weil er für die Ermordung Che verantwortlich war. Sie wurde einige Jahre später von Gefolgsleuten des Diktators Hugo Banzer umgebracht.
Ich war müde und erschöpft, aber immer noch zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Die Nacht wollte kein Ende nehmen. Durch das kleine Fenster sah ich in die sternklare Nacht. Gedankenfetzen hielten mich wach, die letzten Stunden und Tage vor meinem inneren Auge. Das Bild vom leeren Bürgersteig stieg immer wieder in mir auf.

Irgendwann musste mich die Müdigkeit doch übermannt haben. Die Stewardess weckte mich mit freundlicher Stimme und reichte mir das Frühstück. Ich sah auf die Uhr. In gut zwei Stunden würde die Maschine landen.