„Du bist ja immer noch hier. Was willst du noch? War meine Ansage nicht klar und deutlich genug? Verschone mich mit deiner Anwesenheit!“
„Ich, ich habe mich erinnert, wie ich dir damals die Wollmütze gekauft habe.“
„Ja, sie war wirklich wunderschön.“
„Mauve.“
„Mauve?“
„L’heure mauve se glisse.“
„Ich verstehe nicht.“
„Die Stunde der Malve gleitet dahin. So ungefähr. Ich las dies kürzlich in einem Gedicht. Es hat mich tief bewegt.“
„Du liebst die Gedichte immer noch. Wie gerne habe deiner Stimme gelauscht, wenn du mir die Zeilen eines Gedichts rezitiert hast. Du bist wirklich begabt.“
„Du machst mich verlegen. Ich kann mir gewisse Dinge nur einfach gut merken.“
„Und wie deine Stimme dahinschreitet, von Wort zu Wort hüpft. Der bloße Gedanke daran rührt mich.“
„Hör auf! Du willst mich wohl milde stimmen.“
Sie schaut ihn mit diesem innigen und vertrauten Blick an.
„Weißt du noch, wie wir beide uns, als wir den Laden verließen, vor Lachen nicht mehr halten konnten.“
„Ich erinnere mich gut. Ich habe dich gefragt, ob es malvenfarbene Schafe gibt.“
Beide müssen lachen.
„Die Mütze hat dennoch fürchterlich gekratzt. Es kostete mich jedes Mal große Überwindung, sie aufzuziehen. Ich tat es aus Liebe zu dir. Wie so manch anderes.“
„Meinst du, ohne Mütze wären wir heute glücklicher?“
„Was für ein absurder Gedanke. Die Mütze war es nicht, die unser Leben verändert hat. Du hast dich verändert, wolltest irgendwann nichts mehr von den alten Zeiten wissen.“
„Es waren gute Zeiten. Wir haben nächtelang diskutiert. In Gedanken saßen wir auf gepackten Rucksäcken.“
„Uns fehlte damals das Quäntchen Mut und Sorglosigkeit, dessen es bedurft hätte, das Verrückte zu wagen.“
„Gerade fällt mir ein, wie du tagelang mit dem leeren Rucksack herumgelaufen bist. Selbst ins Bett hast du ihn mitgenommen.“
„Wir hätten ihn nur packen müssen. Damals wäre ich dir überall hin gefolgt.“
„Wollen wir vielleicht …“
„Du bist nicht ganz bei Trost. Die Zeit ist vorbei. Du hattest deine Gelegenheiten und hast sie nicht genutzt.“
„Wie geht es Ihnen heute Morgen?“, fragt die Krankenschwester, als sie das Zimmer betritt.
Er sieht sie fragend an. Seine Kehle ist trocken. Er ist außerstande, eine Antwort zu geben. Die Glieder sind schwer und sein Geist nicht wirklich wach.
„Sie sind gestern auf dem Flughafen zusammengebrochen. Offensichtlich vertragen sie die Höhe hier nicht. Wir haben Ihnen einige kreislaufstabilisierende Mittel gegeben.“
„Wo bin ich?“
Es kostet ihm viel Kraft, dies zu sagen.
„Mein Herr, Sie sind in der Clínica Alemana.“
„Haben Sie etwas gegen meine fürchterlichen Kopfschmerzen?“
„Trinken Sie etwas von diesem Tee. Der wird Ihnen helfen.“
Er greift zu Tasse und nimmt einen Schluck.
„Der schmeckt ziemlich verstaubt.“
„Überwinden Sie sich. Sie werden sehen, in ein paar Stunden sind die Kopfschmerzen verflogen.“
Widerwillig leert er die Tasse mit einem Schluck.
„Gibt es jemanden, den wir benachrichtigen sollten.“
Er schüttelt den Kopf.
„Danke, nein. Ich bin dem Alltag entflohen.“
Die Krankenschwester lächelt ihm verständnisvoll zu. Nachdem sie die Infusionsschläuche kontrolliert, seinen Puls gemessen hat, verlässt sie wieder das Zimmer. Der angenehme Duft ihres Parfums bleibt zurück.
‚Malve‘, sagt er sich, schließt die Augen und fällt sogleich wieder in tiefen Schlaf.
Mitten in der Nacht werde ich von der kreischenden Alarmanlage eines Autos geweckt. Von draußen dringt ein kühler Windhauch ins Zimmer.
Ich bin zusammengebrochen, sage ich mir.
Die Tage vor der Abreise waren anstrengend. Ich habe kaum Schlaf gefunden. Es war viel zu organisieren. Im Büro galt es einige Vorgänge abzuschließen und zu Hause habe ich alles für meine Abwesenheit hergerichtet. Es war wie in alten Zeiten, wenn meine Eltern im Herbst, das Ferienhaus winterfest gemacht haben. Die Reinigungskraft wird sich wundern, wenn sie zum wöchentlichen Blumengießen kommt. Der alten Gewohnheit meiner Eltern folgend, habe ich fast alle Möbel, viele habe ich ja nicht, mit Bettlaken abgehängt. Sie wird mich für verrückt halten. Aber hat sie das die letzten Jahre nicht ohnehin getan? Wer meine Wohnung betritt, hat den Eindruck gleichsam in eine andere Zeit einzutreten, ein längst vergangene. Sie hat etwas von einem Antiquariat, angefüllt mit einem Sammelsurium an Gegenstände längst vergangener Tage.
Ich hoffe insgeheim, diesen Ort schon bald wieder verlassen zu können. Vorsichtig strecke ich mich im Krankenbett aus. Offensichtlich hat mein Zusammenbruch keine weiteren körperliche Blessuren mit sich gebracht.
Ich habe kalte Füße und beginne sie aneinander zu reiben.
„Sieh einmal her!“
Er reicht ihn eine alte Schwarzweißaufnahme. Sie ist an den Ecken abgestoßen.
„Du hast sie noch. Was du alles aufhebst.“
„Es ist mein Lieblingsbild von dir.“
„Diese Mütze hat es dir angetan. Ich sehe furchtbar aus.“
„Ganz und gar nicht. Du sahst umwerfend aus.“
„Findest du?“
„Sieh, welche Ausstrahlung von dir ausgeht! Und das Funkeln deiner Augen. Wie sehr hast du mich damit in den Bann gezogen.“
„Ich könnte es noch.“
„Tue es! Mir zu Liebe.“
Für einen kurzen Augenblick wir ihr Blick sanft.
„Ich könnte es wirklich.“
„Schenk mir noch einmal diesen Blick!“
„Oh, oh. Was hast du vor?“
„Gar nichts, meine Liebe.“
Zaghaft versucht er, sich ihr anzunähern.
„Ich werde nie eine andere lieben. Glaube mir!“
Abrupt wendet sie sich ab.
„Nun reicht es aber wirklich. Warum lasse ich mich immer noch von dir so umgarnen?“
„Du liebst mich noch.“
„Das wüsste ich.“
„Gib es zu!“
„Ein wenig.“
Sie dreht sich um und schaut ihn an.
„Mein Lieber, es reicht nicht. Du wirst dir eine Andere suchen müssen, die du anschmachten kannst.“
„Ach, lass es uns noch ein letztes Mal versuchen. Du wirst sehen. Dieses Mal wird alles anders.“
„Wird dir nicht übel, wenn du dich so reden hörst?“
„Ich …“
Kleinlaut bricht er ab.
„Ja du, du, du. Ich höre seit Jahren nichts Anderes von dir. Lass gut sein. Gib dir keine Mühe. Es ist aus und vorbei.“
Sie betrachtet ihn mitleidig.
„Es ist gut, wenn man weiß, wann genug genug ist.“
Sie macht einen Schritt auf ihn zu und küsst ihn flüchtig auf die Stirn.
„Ich wünsche dir ein süßes Leben.“
„Geh nicht! Ich kann ohne dich nicht leben.“
Sie nickt.
„Aber mit mir auch nicht. Verzeih, ich muss jetzt gehen.“