Ches Mütze VI

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„Glaubst du wirklich, man könnte das Leben zurückdrehen wie eine Spielzeuguhr und alles von vorne beginnen lassen.“
„Ich …“
„Unterbrich mich nicht.“
Er hielt inne.
„Nichts wird je, wie es einmal war.“
Stummes Nicken.
„Du weißt es, seit jenem Abend, als du alle deine Ideale verraten hast.“
„Ich werde diesen Abend nie vergessen. Es ist wie gestern. Während die Sonne noch am Himmel stand und alles um mich in tiefe satte Farben tauchte, tratst du von hinten an mich heran. Als ich mich umwandte, konnte ich deine ausdruckslosen Augen sehen. Auf meine besorgte Frage, was mit dir sei, gingst du gar nicht erst ein. Noch eh ich mich versah, traf deine Faust mein Nasenbein. Ich hörte ein Knacken und fiel zu Boden. Als ich wieder zu mir kam, warst du fort. Später dann, es müssen gut zwei Monate gewesen sein, in denen ich nichts von dir hörte, warst du plötzlich wieder da. Kein Wort, keine Erklärung. Es kam nichts aus dir heraus. Am Ende war ich einfach froh, dass du wieder da warst und habe die Sache auf sich beruhen lassen.“
Sie holt tief Luft.
„Nichts bleibt wie es einmal war. Du hast mich nie danach gefragt, warum ich es getan habe. Bist einfach zur Tagesordnung übergegangen. Hast so getan, als ob nichts geschehen sei.“
„Was hätte es geändert?“
„Vielleicht hätten wir damals noch eine Chance miteinander gehabt. Wahrscheinlich hätte ich dich schon damals verlassen sollen.“
„Warum hast du es nicht getan?“
„Spielt es eine Rolle. Dich scheint es bis heute nicht weiter zu interessieren, was mich zu meiner Tat bewogen hat.“
„Willst du es mir jetzt sagen.“
„Wozu?“
„Um mit der Vergangenheit abzuschließen.“
Verlegene Blicke treffen sich.
„Es ist so lange her.“
„Nun erzähl schon! Ich will es wirklich wissen. Auch wenn es zu spät für uns ist. Oder?!“
„Mach dir keine Hoffnungen. Nichts wird noch etwas daran ändern können.“
„Wirklich nichts?“
Er lächelt sie an.
„Lass das. Du weißt nur zu gut, dass mich dein Hundeblick mehr als nervt. Willst du nun etwas von mir hören, oder heuchelst du wieder einmal nur Interesse vor?“
Er winkt ab.
„Es ist an dir davon zu erzählen. Mehr will ich nicht sagen.“
„Du willst es also gar nicht hören.“
Er wendet sich ab, tritt ans Fenster und schaut über die Häuserschluchten der Stadt. In der Ferne leuchtet ein Blitz auf. Für den Bruchteil einer Sekunde wird ein  feinädriges Gebilde mit feinen Verzweigungen sichtbar und lässt eine dichte Wolkenfront erkennen.
„Nun lasst es endlich heraus! Die Spannung, die du verbreitest, ist kaum zu ertragen.“
„Spannung?“
„Ja. Weißt du, wie oft du mir Desinteresse vorgeworfen hast? Während deine Augen Funken versprühen, die Spannung zwischen dir und mir kaum auszuhalten ist, wartest du auf eine Art Startschuss von mir. Stimmt’s? Ich habe mich immer gefragt, wie du dies innerlich aushältst. Manchmal habe ich dich mit Absicht gereizt, damit du dich endlich entladen kannst. Nicht selten hast du dich jedoch zurückgezogen und mir ein schlechtes Gewissen gemacht. Wie oft habe ich von dir gehört ‚Wie kann ein Mensch so emotionslos, so ohne jede Empathie sein?‘ Ich fand es nur frustrierend. Schließlich hat es dazu geführt, dass ich jede Art von Kommunikation mit dir gemieden habe.“
„So habe ich auf dich gewirkt? Es ist unfassbar. Ich kann es nicht glauben. Du bist raffiniert. Ein weiteres Mal drehst du den Spieß einfach um. Gerade konfrontiere ich dich mit Tatsachen und im nächsten Moment holst du aus.“
„Wie du damals. Also entscheide dich endlich, ob du es mir erzählen willst. Meine Geduld ist am Ende.“
Er nimmt auf dem Sofa neben ihr Platz. Sie rückt etwas zu Seite und dreht sich zu ihm hin.
„Kannst du dich erinnern, dass du an jenem Abend, deine geliebte Mütze abgelegt hast?“
Ihre Frage ist zaghaft. Ihre Stimme verrät Unsicherheit. Die Spannung in ihr scheint völlig gewichen zu sein.
„Ich erinnere mich gut.“
„Als ich dich zur Rede stellen wollte, hast du nur abgewunken, bist auf den Balkon gegangen und hast in die Nacht geschaut. Auf alle möglichen Arten habe ich versucht, dir irgendetwas zu entlocken. Selbst als ich dich umarmen wollte, hast du mich abgewiesen. Ich fühlte mich schuldig, habe mich gefragt, was dich an meinem Verhalten verärgert haben könnte. Du bist von Tag zu Tag immer mehr in dir versunken. Mein Schreien und Flehen haben dir kein Wort, keine Geste entlocken können. Dies war die Zeit, in der ich zum ersten Mal gedacht habe ‚Das war’s.‘ Ich habe dich in jenen Tagen nicht wiedererkannt. Du warst grausam.“
„Von alledem habe ich nichts mitbekommen. Ich stand neben mir. Erst dein Faustschlag hat mich …“
Er schluckt, schnappt nach Luft.
„Dieser Hieb riss mich förmlich aus der Dunkelheit, all dieser Schwere und Lethargie heraus. Jedoch, ehe ich wieder so recht zu mir kam, warst du längst verschwunden … Ich habe tagelang nichts anderes gemacht, als zu warten, nicht geschlafen, nur auf die Wohnungstür gestarrt.“
„Das kannst du ja besonders gut. Aber ich will nicht ablenken. Deine Warterei ist ein Thema für sich.“
Ihre Hand fährt ihm flüchtig über den Arm. Sie kann seine Hitze spüren.
„Nach meinem Gewaltausbruch bin ich selbst im Boden versunken. Ich habe mich für meine Tat fürchterlich geschämt. Mein Flucht war nur folgerichtig. Ich musste erst wieder zu mir kommen. Wollte verstehen, was geschehen war.“
„Und was war geschehen?“
„Dein Schweigen, dein nicht reden wollen oder können, es war unerträglich. Über Tage wuchs eine unbändige Aggression in mir an. Der Schlag hatte etwas Befreiendes.“
Sie lacht kurz auf.
„Du hast mich fassungslos angesehen.“
Beide Handflächen öffnend macht sie eine entschuldigende Geste.
„Verzeih. Es kam damals einfach über mich. Ich konnte nicht anders.“
Sie macht eine Pause.
„Du hättest einfach nur reden müssen.“
Er starrt vor sich hin, versinkt für Augenblicke in der Betrachtung der Ornamente des Teppichs.
„In jenem Herbst erlebte ich einen völligen Zusammenbruch. Etwas zerbrach in mir, von dem mir erst später klar wurde, was es eigentlich war. Darum und nur darum fand ich damals keine Worte, zog mich zurück und verließ tagelang das Bett nicht mehr, während du die Ereignisse jenes Herbstes aufmerksam verfolgtest.“
„Es war fürchterlich, was geschah. Aber noch grausamer war, nach all den Jahren, in denen wir nächtelang über eine andere Welt diskutiert hatten, mich nicht mit dir darüber austauschen zu können.“
Er nickt.
„Bist du nie auf die Idee gekommen?“
Sie unterbricht ihn.
„Doch. Mir war klar, warum deine geliebte Mütze plötzlich verschwand. Aber ich wollte es von dir hören. Ich wollte es aus deinem Munde hören.“
„Dass die Umsetzung politischer Ziele Grenzen bei der Wahl ihrer Mittel hat?!“
„So ist es. Dieses Eingeständnis hätte mir viel bedeutet.“
„Was hätte es gebracht?“
„Du weißt genau, dass wir uns in der Frage der Mittel immer unterschieden haben. Sonst hättest du nicht so stolz die Mütze eines Mörders tragen können.“
„Besondere Zeiten, verlangen besondere Mittel.“
„Verschon mich mich derlei haltlosen Sprüchen. Sie sind doch zu nichts anderem gut, als im vorliegenden Falle, das bestialische Handeln deines Helden zu rechtfertigen.“
„Du tust mir unrecht. So uneins waren wir uns in der Frage der Mittel nicht.“
„Dies sehe ich anders.“
„Ich habe nur länger gebraucht, mir dies eingestehen zu können … bis zu jenen Herbsttagen. Vielleicht war ich auch von den heroischen Zielen geblendet? Und doch halte ich fest daran: Ohne das Aufbegehren Einzelner wäre es um das Wohl des einfachen Volkes noch schlechter bestellt.“
Er atmet auf.
„Es ist selbst nach Jahren noch gut, dies endlich mal aussprechen zu können.“
„Nur zu, hast ja lange dafür gebraucht.“
„Wäre es anders mit uns ausgegangen, wenn …?“
„Lass gut sein. Diese Frage, wird dir keiner beantworten können. Auch ich nicht.“
„Es ist, wie es ist?! Diese eine Frage hat uns im Grunde auseinandergebracht. Längst bevor deine Faust mich traf.“
„Vielleicht kannst du nun die tieferen Zusammenhänge annehmen, die unser Beziehung irgendwann in Frage gestellt haben. Aber glaube nicht, ich hätte dich wegen dieser schrecklichen Kopfbedeckung verlassen.“
In sich gekehrt folgen Minuten des Schweigens.
„Übel genommen habe ich dir damals nicht, dass du so spät zur Einsicht gekommen warst. Nie verziehen habe ich dir, wie du all deine Ideale über Bord geschmissen hast.  Darum bin ich gegangen. Das erste Mal und werde es nun wieder tun.“
Sie stand auf.
Er saß wie versteinert da.
Ein letztes Mal ging ihre Hand über den vertrauten Kopf, streichelte ihn sanft.
Noch Stunden später war es ihm, als spüre er den sanften Puls ihrer feingliedrigen Hände. Das Feuer ihrer Handflächen.

Am nächsten Morgen tritt er noch wackelig auf den Beinen ans Fenster und schaut hinab auf das Eingangsportal. Er beobachtet, wie ein Mitarbeiter des Krankenhauses eine armselige Existenz vertreibt.
Wie wenig sich doch verändert hat, denkt er, als er vom Fenster zurücktritt, seinen Rucksack aufnimmt und das Zimmer verlässt.