Ches Mütze VII

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Seit Stunden starrte er nun schon auf die Wohnungstür. Bei jedem Geräusch im Hausflur schreckte er auf, doch das gehoffte Drehen des Schlüssels blieb aus. Er wusste selbst nicht zu sagen, woher er die Hoffnung nahm, dass sich am Unabänderlichen noch etwas ändern könnte. Die Ansage seiner Frau war klar und unmissverständlich gewesen. Einem verabreichten Serum vergleichbar brauchte sein Verstand eine geraume Zeit, bis das Maß ihrer Worte ihre Wirkung zeigten.
Und dennoch verharrte er, starrend, hoffend, gegen alle Hoffnung.
In den endlosen Stunden des Wartens war sein Geist wach wie lange nicht mehr. Unablässig ließ er das letzte Zusammentreffen mit seiner Frau vor seinem inneren Auge vorbeischreiten. So sehr er sich auch bemühte, er konnte keinen Augenblick ausmachen, nicht eine Sekunde, von der an sich alles noch hätte wenden können.
Nichts bleibt, wie es einmal war.
Dieser Satz hallte in ihm fort, wie ein nie enden wollendes Echo. Sein Kopf wollte platzen. Ein unerträglicher Schmerz bemächtigte sich seiner. Wie gerne hätte er in das Rad der Zeit gegriffen, zurückgedreht und … Was nur? Er konnte es im Grunde selber nicht sagen. Seine Frau hätte ihm wie so oft vorgehalten, dass es ihm an der nötigen Portion Realismus fehle. Es gab Zeiten, da sie diesen Zug an ihm noch schätzte, liebevoll sein Gesicht in ihre Hände nahm und sagte:
Mein Lieber, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, du seist in den Kinderschuhen längst vergangener Zeiten steckenblieben. Deine Naivität den harten Realitäten des Lebens gegenüber hat etwas Rührendes. Aber du wirst sehen, es wird der Tag kommen, da wirst du aufwachen. Sieh nur zu, dass es bis dahin nicht ganz leer um dich geworden ist, es keinen mehr gibt, der diesen Schmerz des Erwachens mit dir teilen wird.
Die tiefere Bedeutung ihrer Worte blieb ihm damals noch verschlossen. Um so heftiger war ihre Wirkung nun, da er sich eingestehen musste, wie einsam er war.
Fast besinnungslos fasste er all seine Kräfte zusammen, schritt schlurfend in Richtung Balkon. Ihm wurde schwindelig. Mit einem Flirren vor den Augen trat er auf den Balkon.
‚Lass dich fallen‘, sagte eine Stimme in ihm.
Als er sich über das Geländer beugte und in die Tiefe schaute, schreckte er abrupt zurück. Es war, als habe der Blick in Tiefe seinen Lebensnerv reanimiert. Immer noch schwankend verharrte er für Augenblicke, bevor er das Schlachtfeld seiner jüngsten Niederlage erneut betrat.
„Entweder – oder“, entfuhr es ihm.
War das, was er in den letzten Stunden erlebt hatte, sein ureigenstes Waterloo? Etwas, was er auf solche Weise wahrscheinlich nur einmal im Leben über ihm hereinbrach.
Beim Betreten des Wohnraumes schloss er unwillkürlich die Augen, atmete tief ein und ließ sich auf das Sofa fallen, auf dem er in den letzten Stunden seine Niederlage zu erfassen gesucht hatte.
„Entweder – oder“, wiederholte er mit fester Stimme.
Ihr Weggang, dem nichts an seiner Endgültigkeit zu nehmen war, der durch nichts je rückgängig gemacht werden konnte, hatte in seiner schieren Hoffnungslosigkeit etwas Befreiendes. Vielleicht gab es Niederlagen im Leben, aus denen man sich dennoch erheben konnte. Mit seinem Schicksal zu hadern lag ihm fern. Alles war offensichtlich so gekommen, wie es kommen musste. Gleichwohl gab es keinen Grund, sich vom Leben abzuwenden.
Ganz in Gedanken begann er seinen Körper abzutasten. Unter der Haut spürte er die Kraft der erschlafften Muskulatur. Als er das unablässige Pulsieren seines Herzens mit seinen Fingerkuppen wahrnahm, durchfuhr ihn ein Schauer. Er lebte noch, trotz allem.
„Oder?“
„Oder!“
Vehement begann sein Kopf zu nicken. Er war bereit, trotz allem, was ihm widerfahren war, das Oder, ein Widersprechen allem Geschehenen zum Trotz aussprechen.
Er erhob sich.
Es kann immer auch anders werden. Das Leben ist zu bunt und vielseitig, dass es uns daran hindern könnte, ein für uns neues Kapitel aufzuschlagen.‘
Mit einem Mal konnte er die feste Umarmung seines Großvaters spüren, der ihn einst nach der Trennung von seiner Jugendliebe zu trösten gewusst hatte. Mit einem Mal wurde ihm ganz warm.
‚Mein Körper erinnert sich‘, dachte er, während es sich um die eigene Achse drehte und den aufkommenden leichten Schwindel als Zeichen wiedererwachter Lebenskräfte genoss.

Das abrupte Bremsen des Busses reißt mich aus dem Schlaf. Ich sehe mich um und brauche eine Weile, um mich zu orientieren. Geschwächt von den letzten Tagen war ich vor Stunden aufgebrochen, hatte das Krankenhaus gemäßigten Schrittes verlassen, zunächst ein Taxi, später den Bus bestiegen, der mich an das Ziel meiner Reise bringen sollte.
In meiner Hand halte ich eine kleine Plastiktüte. Ich habe sie kurz vor der Abfahrt meines Busses von einem Straßenhändler erstanden. Sie beinhaltet Cocablätter, die mir die Akklimatisierung erleichtern sollen. Ich habe viel von ihrer Wirkung gehört und bin dennoch skeptisch.
Neben mir sitzt ein älterer Herr. Ich beobachte ihn dabei, wie er sich ein Dutzend Blätter in den Mund stopft. Er nickt mir aufmunternd zu und deutet mit einem Nicken an, es ihm gleich zu tun. Als ich meine Scheu überwunden habe und mir einige Blätter in den Mund stecke, bin ich versucht, diese sogleich wieder auszuspucken. Widerwillig behalte ich sie in meinem Mund und warte darauf, dass sich der staubige und bittere Geschmack legt. Der Alte lächelt mir zu und gibt mir weitere Anweisungen, die Blätter in eine meiner Backentaschen zu schieben und dort weich werden zu lassen.
„Bald schon werden sie ihre wohltuende Wirkung entfalten. Sie werden sehen“, gibt er mir zu verstehen.
Zum Glück bin ich den Anweisungen des Alten gefolgt und habe nicht versucht die Blätter zu zerkauen. Vermutlich hätte ich sie längst in einem hohen Bogen wieder ausgespuckt.
Später wird er mir zeigen, wie ich geschickt mit zwei Fingern die fast geschmacklos gewordenen Cocareste aus meinem Mundwinkel hole. Etwas verlegen werde ich seiner Bitte folgen und ihm diese in seine ausgestreckte Hand legen.
„Die Reste der Cocablätter einfach auszuspucken, ist uns untersagt. Manche machen dies. Du hast es vielleicht schon beobachten können. Pachamama gefällt dies jedoch ganz und gar nicht. Ich werde unsere Reste Pachamama später zurückgeben. Meist lege ich sie irgendwo unter einen Stein. Alles ist in einem steten Kreislauf. Und bedenke, Mama Coca ist nicht einfach ein Strauch. Er ist heilig, eine direkte Verbindung zwischen Himmel und Erde.“
Ich nicke, ohne recht verstanden zu haben, was er mir gerade zu Verstehen gegeben hat. Nur eines wird mir jetzt schon klar: Ich bin dabei in eine völlig andere Welt einzutauchen.

„Hier“, sagt der Alte und schmunzelt mir zu. Er reicht mir eine Tasse Tee.
„Probier mal! Für manche ist der Cocatee angenehmer, auch wenn sich die Wirkung von Mama Coca nicht ganz so in dir entfalten wird.“
Ich versuche, so zu wirken, als könne ich ihm folgen. Der Alte jedoch hat mich durchschaut.
„Lass dir Zeit. Was du über unser Land, unser Volk und unsere Geschichte wissen musst, braucht Zeit.“
Nun zeigt er auf einen Reiseführer, in dem ich in der letzten Stunde geblättert habe und der noch aufgeschlagen vor mir auf den Beinen liegt.
„Und all dies kann kaum angelesen werden. Es muss erfahren werden. Du musst es selbst durchleben.“
Ich lächle ihm zu und halte seinem Blick stand. Für kurze Zeit versinke ich in dem gütigen Blick seiner an feuchte dunkle Erde erinnernden Augen.

„Ich heiße übrigens Álvaro“, sagt der Alte, als er sich beim gemeinsamen Aussteigen von mir verabschiedet.
„Ich freue mich, deine Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich heiße Clemens.“
„Gott segne dich!“
„Dich auch!“, nehme ich seinen Abschiedsgruß auf.