Einen Augenblick sehe ich mich um, während der Alte sich entfernt. Die Luft ist angenehm frisch. Nach Tagen kann ich endlich wieder freier atmen.
Unweit von mir entdecke ich am Rande der Plaza eine leere Parkbank. Ich beschließe, mich dort für einige Zeit niederzulassen. Es ist eine gute Möglichkeit, Umgebung und Leute erst einmal auf mich wirken zu lassen, ohne gleich Teil dieser anderen Welt zu werden.
Ich habe mich kaum niedergesetzt, da inspizieren mich einige an mir vorüberziehenden Jugendlichen neugierig.
„Der Kommandante lebt!“, ruft mir ein Junge zu.
‚Ist es so offensichtlich, was mich an diesen entlegenen Ort verschlagen hat?‘, frage ich mich, während ich ohne zu reagieren einfach meinen Blick abwende.
Die Mütze hätte mich eindeutig verraten. Sie ist aber noch in meinem Rucksack. Ich habe sie all die Jahre wie eine Reliquie aufgehoben und keine Minute gezögert, sie bei meinem Aufbruch als nostalgischen Kniefall vor meiner Vergangenheit, trotz der jüngsten Ereignisse um sie und ihre Bedeutung, einzupacken. Daran kann es also nicht liegen.
„Mach dir nichts daraus. Wir haben schnell den Überblick, wer gerade zugereist ist. Es spricht sich schnell herum.“
Ich erkenne die Stimme des Alten und schaue auf.
„Entschuldige Clemens, wenn ich dich nochmals anspreche. Ich dachte mir, vielleicht hast du Lust, mit mir einen Kaffee zu trinken. Ich kenne in der Nähe ein Café, wo er einigermaßen genießbar ist.“
In der Hoffnung noch ein paar nützliche Tipps für die nächsten Tage zu erhalten, gar eine Empfehlung für die kommende Nacht, folge ich ihm.
„Warum bist du eigentlich hier?“, will der Alte sogleich wissen, als wir auf Plastikstühlen unter einem vergilbten Sonnenschirm Platz genommen haben. Der Name einer hiesigen Telefongesellschaft ist kaum noch zu erkennen.
Ich antworte nicht sogleich und nehme zunächst einen Schluck Kaffee, der uns in Plastikbechern serviert wird. Er schmeckt besser als erwartet und wird tatsächlich wie gewünscht ohne Zucker serviert.
„Du musst nicht antworten. Es ist wohl eine Unart von uns, alle hier Ankommenden erst einmal nach dem Grund ihrer Reise zu fragen.“
„Ich habe keine Probleme damit“, entgegne ich und lasse meinen Blick schweifen.
„Eine touristische Attraktion ist dieser Orte wirklich nicht. Also was führt dich zu uns?“
„Wenn ich ehrlich bin, dann will ich ein altes Kapitel meines Lebens nochmals aufschlagen. Vor vielen Jahren saß ich in Gedanken schon auf einem gepackten Rucksack. Es waren damals auch für europäische Verhältnisse recht unruhige Zeiten. Vieles lag weltweit im Argen und mancher von uns, wollte etwas verändern.“
„Sieh dich um! Auch wenn du diesen Ort von früher nicht kennst, kann ich dir versichern, dass sich nicht allzuviel verändert hat. Ich war damals ein junger Mann. Meine Frau erwartete unser erstes Kind. Wir hatten nicht gerade viel, kamen so gerade über die Runden.“
Der Alte sieht mich freundlich an.
„Ich kann mich noch gut an jenen Tag erinnern, als sich die Nachricht, der Kommandante sei mit einigen seiner Leute in der Umgebung aufgetaucht, wie ein Lauffeuer verbreitete. Einige Jugendliche haben sich an diesem Tag im Kirchturm verbarrikadiert und den ganzen Tag die Glocken geläutet. Sie konnte erst in der Nacht vom Pfarrer dazu bewogen werden, den Kirchturm wieder zu verlassen. Mittlerweile war, wie bei ähnlichen Vorkommnissen der ganze Ort auf der Plaza zusammengekommen. So erfuhr auch der Letzte von dem, was geschehen war.“
„Wie hat die Bevölkerung auf die Nachricht reagiert?“
„Sehr unterschiedlich. Die einen wollten von alle dem nichts wissen. Sie hatten zum Teil schreckliche Dinge gehört, von denen aber keiner sagen konnte, ob sie stimmten. Es waren halt noch andere Zeiten. Kein Internet, du verstehst, was ich meine.“
Ich nicke.
„Andere wären am liebsten gleich noch in der Nacht losgezogen, um sich dem Kommandante anzuschließen. Einige mussten gewaltsam von ihren Frauen und Familien daran gehindert werden. Ich habe von einem Fall gehört, wo jemand gegen seinen Willen, über Monate in Stall neben dem Hausschwein angebunden wurde.“
„Und du?“
„Mir fehlte der Mut und so kam es mir gerade gelegen, dass wir unser erstes Kind erwarteten. Allen, die mich darauf ansprachen, erklärte ich, dass ich unmöglich meine Frau alleine lassen könne. Und vor allem …“, hier unterbricht der Alte seinen Redefluss und sieht vor sich hin.
Minuten des Schweigens folgen. Ich lasse ihn, versuche nicht, ihn zum Weiterreden zu bewegen. Es ist bis hierin erstaunlich genug, was sich zwei bis vor kurzem noch völlig fremde Menschen anzuvertrauen bereit sind.
Wir trinken unseren Kaffee aus.
„Kann ich Ihre Toilette benutzen“, frage ich die Besitzerin des Cafés. Sie heißt Doña Rosa. Der Alte hat sie mir vorgestellt. Beide scheinen sehr vertraut miteinander.
„Ganz wie sie wünschen. Hinter der Theke links“, antwortet sie mir.
Als ich wiederkomme und mich anschicke, den Kaffee zu zahlen, macht der Alte eine Handbewegung und bittet mich, erneut Platz zu nehmen. Ich setze mich und schaue ihn neugierig an. Zu gern würde ich mehr von ihm erfahren.
„Als ich damals nicht aufgebrochen bin, um dem Kommandante bei seiner Mission zu folgen, war ich innerlich zerrissen. Später als nähere Umstände von seinem Feldzug, wie ich ihn einmal nennen will, bekannt wurden, war ich froh, mich nicht angeschlossen zu haben. Im Grunde bin ich, wie all meine Vorfahren ein zu friedliebender Mensch, als dass ich zu gewaltsamen Mitteln greifen könnte. Ein Grund, warum nur wenige aus der indigenen Bevölkerung sich damals am aktiven Kampf beteiligten. Manche haben uns in dieser Haltung für dumm und schicksalsergeben erklärt. Nicht ganz zu Unrecht. Wir sind gewohnt, das Leben aus der Hand Pachamamas zu nehmen. Ihr verdanken wir alles.“
„Auch das schlimmste Schicksal?“
Ich bin leicht irritiert. Es fällt mir schwer, das Leben in Abhängigkeit von schicksalhaften Zusammenhängen zu sehen. Ich möchte selbst verantwortlich sein, Verantwortung für mein Leben übernehmen können und mich nicht fragen müssen, ob irgendeine höhere Macht mit gerade durch die nächste Etappe meines Lebens dirigiert.
„Ich sehe, du bist skeptisch. Ich bin von euch Europäern im Grunde nichts Anderes gewohnt. Seit der Aufklärung regiert bei euch allein der Verstand. Ein Wunder, dass die Kirchen bei euch nicht längst alle zu Bibliotheken, Kaffeehäusern oder einfach zu Grabstätten geworden sind.“
„Was ist gegen den Verstand vorzubringen?“
„Nichts, ich schätze die Möglichkeit, die Dinge, Geschehnisse mit dem Verstand reflektieren zu können. Die Wahrnehmung ist aber nicht allein eine Sache des Verstandes. Spirituelle Erfahrungen können nur unzureichend beschrieben und noch weniger umfassend erklärt werden.“
„Pachamama hat keinen Platz in unserer rational durchdachten Welt.“
„Sehr bedauerlich. Aber wir schweifen ab. Vielleicht kann ich dir ein anderes Mal eine kleine Einführung in unseren Glauben an Pachmama geben. Nur, wenn es dich interessiert.“
„Schon aus Neugier, gerne. Wenn ich mich nicht auf unbekanntes Terrain begeben wollte, hätte ich kaum diese Reise begonnen. Mir ist klar, dass hier noch so manche Überraschung auf mich wartet.“
„Ich denke auch. Nun zurück zu einer Kernfrage des Seins. Wie sehr soll und kann ich in das Rad der Geschichte eingreifen? Und wenn wir diese Frage grundsätzlich bejahen und darin sogar eine Lebensaufgabe sehen, wie steht es dann mit Verhältnissen, die objektiv betrachtet, Not und Elend von Menschen nach sich ziehen? Dürfen wir zu Behebung der Umstände, die dazu führen, in den Kampf ziehen? Müssen wir es sogar?“
„Wichtige Menschrechte sind auch durch gewaltsame Umbrüche verwirklicht worden.“
„Geht die Idee der Menschenrechte nicht jedoch von der Grundannahme aus, dass alle Menschen unabhängig ihre Herkunft mit gleichen Rechten ausgestattet sind?“
„So ist es. Und es ist die Aufgabe aller Staaten, für die Durchsetzung dieser Rechte zu sorgen.“
„Damit bekommt der Staat aber auch die Aufgabe, Ungleichheiten in einem Volk abzuschaffen.“
„Ja, das Thema Umverteilung scheint mir bis heute ein Gewichtiges zu sein. Wir sagen mittlerweile auch gerne Partizipation. Es schwächt den Gedanken der Umverteilung etwas ab. Man hat wohl eingesehen, dass es nicht so einfach ist, den Reichen etwas von ihrem Besitz zu nehmen, um es den Armen zu geben, auch wenn genug für alle da wäre. Darum reicht es vielen heute schon, davon zu sprechen, dass der Zugang zu den wichtigsten Dingen im Leben für alle möglich sein soll.“
„Für mich wird damit nur das Pferd von hinten aufgezäumt. Bei vielen Themen spielt das Geld doch eine wichtige Rolle und entscheidet darüber, ob ich Zugang zu Bildung, ärztlicher Versorgerung und anderem habe.“
„Ich kann dir nicht widersprechen.“
Mit einem Mal spüre ich Müdigkeit und wünsche mir, mein Haupt in absehbarer Zeit niederlegen zu können.
„Álvaro, ich möchte ungern unsere Diskussion abbrechen, aber die Fahrt war lang und anstrengend und ich bin sehr müde. Gerne können wir sie zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen. Ich brauche noch ein Bett für die nächste Nacht. Hast du eine Empfehlung für mich? Kennst du irgendeine geeignete Pension?“
„Weißt du was, du kommst mit mir. Wir haben für dich ein Bett frei. Kein Luxus, aber ich denke, du wirst gut schlafen können. Und etwas zu essen sollte es auch noch geben. Dich soll ja kein knurrender Magen vor dem verdienten Schlaf abhalten.“
Ich muss schmunzeln. Der Alte verblüfft mich mit seiner Direktheit aufs Neue.
„Wirklich?! Das ist zu freundlich. Ich weiß, nicht, ob ich das annehmen kann.“
„Du würdest mir eine große Freude bereiten. Wie könnte ich dich jetzt einfach so ziehen lassen. Mir ist, als ob mich unser Gespräch in eine längst vergangene Zeit katapultiert hätte. Ich danke dir dafür.“
„Mir geht es nicht anders. In der letzten Stunde hatte ich den Eindruck, wieder in meiner verräucherten Kneipe um die Ecke zu sitzen. Ich muss dir danken und nehme deine Einladung gerne an.“