Ches Mütze IX

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„Möchtest du noch etwas von der Suppe? Ich hoffe, sie hat dir geschmeckt? Ich habe sie nach einem alten Rezept meiner Frau gekocht. Sie ist typisch für unsere Region.“
„Danke nein. Sie hat vorzüglich geschmeckt. Nun bin ich gut gesättigt und im Übrigen esse ich normalerweise nicht so spät mehr.“
„Ach Clemens, hier wird es recht früh dunkel. Anders als bei euch.“
„Ich vergaß. Trotzdem, nein Danke. Was macht deine Frau? Wann werde ich sie kennenlernen?“
„Ich werde sie dir nicht mehr vorstellen können. Sie ist vor einem Jahr an Krebs verstorben. Seitdem lebe ich allein. Unser einziges Kind, du erinnerst dich, Pachito, lebt in der Stadt. Die Fahrt dorthin ist lang und wie selbst erfahren konntest sehr beschwerlich. Irgendwann hat er die Einöde hier einfach nicht mehr ausgehalten. Ab und an kommt er mich besuchen.“
„Oh, beides tut mir sehr leid für dich.“
„Muss es nicht. So ist es, das Leben. Der Lebenskreis meiner Frau hat sich geschlossen. Sie ist wieder ein Teil unserer Erde geworden.“
„Ein Teil von Pachamama?!“
„Du sagtst es. Mein Sohn und ich, auch du, wenn ich dich einschließen darf, uns bleibt wohl noch eine Weile, uns am Dasein zu erfreuen.“
„Es freut mich, dass ich in so kurzer Zeit schon ein Teil deines Lebens geworden bin.“
„Ja, das Leben und der Tod.“
Álvaro wiegt eine Weile seinen Kopf auf und ab.
„Jedes Mal wenn ich mit einem Europäer darüber spreche, merke ich doch, dass wir ein etwas anderes Verhältnis vor allem zum Tod haben als ihr.“
„Was meinst du?“
„Nun ja, ich habe mit vielen Reisenden gesprochen. Ich bin im Laufe der Jahre eine Art Reiseführer geworden. Nicht wirklich, aber es hat sich herumgesprochen, dass ich viel über unser Land, unsere Geschichte und unseren Glauben zu berichten habe und zudem interessante Orte kenne. Mittlerweile hat sich diese Aufgabe als etwas beschwerlich erwiesen. In wenigen Wochen werde ich bereits achtzig Jahre alt. Früher war diese Tätigkeit ein guter Nebenverdienst zu meiner Anstellung im hiesigen Rathaus.“
„Ach darum. Ich habe mich schon gewundert.“
„Gewundert?“
„Du scheinst eine ganze Bibliothek an Wissen in dir zu beherbergen. Wäre es unverschämt, ganz eigennützig noch die ein oder andere Nachhilfestunde zu erhoffen.“
„Ganz und gar nicht. Du bist mir von Anfang an sympathisch gewesen. Und es hat sich gezeigt, dass dies einen tieferen Grund hat. Uns scheint etwas zu verbinden. Ich bin neugierig mehr davon zu erfahren. Fühle dich eingeladen. Du kannst hier so lange deine Zelte aufschlagen, bis zu genug von mir, dem alten Herren hast.“
„Álvaro, ich kann dir gar nicht genug danken. Du bereites mir eine große Freude und ich werde, heute bereits zum zweiten Mal, dein Angebot liebend gerne annehmen.“
Álvaros Augen werden bei meinen letzten Worten feucht.
‚Eigentümlich wie schnell er mir vertraut geworden ist‘, gestehe ich mir ein. ‚Es ist fast so, als würden wir uns schon ewig kennen.‘
„Wie sieht es aus? Noch eine Tasse von unserem Cocatee? Er wird dir gut tun.“
„Gerne.“
„Geh schon mal auf die Terrasse. Der Abend ist noch mild. Ich komme gleich.“
Minuten später reicht mir Álvaro eine Becher Tee und nimmt neben mir Platz.
„Was hat es eigentlich mit dem auf sich, was du vorhin nur angedeutet hast? Du sprachst davon, ein Kapitel deiner Vergangenheit nochmals aufschlagen zu wollen.“
„Kann man überhaupt nochmals in die Vergangenheit eintauchen?“
„Der Komandante jedenfalls lebt nicht mehr. Diese Zeit ist längst vorbei. Und doch verdankt unsere Ort ihm die Präsenz neugieriger Touristen. Irgendwie gehen bis heute viele von ihnen davon aus, dass sie in eine Art Freizeitpark eintauchen und den verklärten Berichten einiger Augenzeugen lauschen können. Fehlt nur, dass jemand auf die Idee kommt, eine Art Volkstheater zu bauen, um die Ereignisse von damals nachzuspielen.“
„Mit ausgemussterten Filmsternchen?!“
„Ich bin jedenfalls froh, dass es bis heute nicht dazu gekommen ist. Die Vorstellung ist einfach nur gruselig. Zum Glück liegen wir dann doch zu weit ab von dem pulsierenden Leben, was ein Großteil der Menschen heute selbst in Urlaubszeiten sucht.“
„Sei froh. Ich genieße es dafür um so mehr, dem täglichen Trubel für eine Zeit entkommen zu sein.“
„Für eine Zeit?!“
„Wer weiß. Eine Erkenntnis des heutigen Tages ist jedenfalls, dass ich nichts von all dem, was ich damals mit einer solchen Reise verbunden habe, je werde nachholen können.“
„Kannst es sein, dass es damals für dich noch einen anderen Grund gab? Etwas, was dich in die Ferne gelockt hat?“
Ich blicke ihn verwundert an.
„Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber, wenn …“
„Dann?“
Ich überlege.
„Nun sag schon!“
„Spontan fällt mir nichts ein. Außer …“
„Außer?“
„Du musst wissen, dass ich in einem Land großgeworden bin, das aus den Ruinen eines verlorenen Krieges erhoben und zu alter Stärke gesucht hat. Einer großen Mehrheit ging es, trotz der furchtbaren Folgen des Kriegs, schon nach recht kurzer Zeit wieder gut ging. Sehr gut sogar. Es ging aufwärts. Aber irgendetwas wirkte fort. Der ungute Geist war längst nicht ausgetrieben – und ist es wohl bis heute nicht. Es war nicht leicht in einem solchen Land aufzuwachsen, dass erst dabei war, sich selbst zu finden. Wen wundert, wenn jede kleinste Entwicklung zu neuerlichen totalitären Strukturen gerade in studentischen Kreise mit Argwohn bedacht wurde. Wir hatten große Angst, die Geschichte könnte einen neuen Anlauf zu einem tausendjährigen Reich nehmen, diesmal nicht als offen gelebter Fremdenhass – wenngleich dieser seit geraumer Zeit wieder salonfähig geworden ist. Es war vor allem das kleinbürgerliche Denken, das Konformität über alles stellt und jeder Veränderung nur Skepsis entgegenbringt. Wir haben es gehasst. Wir wollten keine Spießbürger werden. Alles hinter sich zu lassen und das Glück in der Ferne zu suchen, war für manchen nur folgerichtig. Ich habe damals auch darüber nachgedacht.“
„Spießbürger? Den Ausdruck habe ich noch nie gehört.“
„Es ist ein sehr alter Begriff und geht in die Zeit des Mittelalters zurück, eine Zeit, in der Bürger mit Spießen ihre Stadt verteidigt haben. Es war vornehmlich jene aus der ärmsten Schicht, die für einen kleinen Lohn zum Spieß griffen. Den Wohlhabenden, die sich hinter ihren Mauern verschanzten, war dies nur recht. Keiner von ihnen musste so sein eigenes Leben aufs Spiel  setzten. Und wie leicht die Ärmsten der Armen sich für fremde Zwecke und Interessen manipulieren lassen, ist ja bis heute bekannt.“
Álvaro nickt zustimmend.
„Der Betuchte schaut dem Wüten aus gesichter Position gerne zu und vermeidet alles, um sich selbst die Hände dreckig zu machen.“
„Etwas verkürzt, aber nicht ganz unzutreffend.“
„Könnte man sagen, dass die ersten Spießbürger eine Art Bürgerwehr waren.“
„So ungefähr. Heute ist es ein Synonym für Leute die große Symphatie für alles entwickeln, was die innere Ordnung sichert, vor allem die staatliche Ordnungsinstanz, die Polizei. Dabei fällt mir ein Abschnitt eines alten Textes ein, der eines Tages am Schwarzen Brett in der Uni hing. Nicht lange, wohl bemerkt, denn schon bald wurde er abgenommen und durch einen anderen ersetzt. Das Aufhängen von Propaganda ist strengenstens untersagt und kann zum Ausschluss aus dem Universitätsbetrieb führen. Sachdienliche Hinweise zur Ergreifung der Autoren widerrechtlicher Traktate werden im Sekretariat entgegen genommen. Dabei war der Text harmlos. Die Reaktion spricht für sich.“
„Nun lass hören!“
„ Einen Moment.“
Aus den Tiefen der Vergangenheit taucht der Text auf. Ich sammle mich, erinnere mich und hebe meine Stimme leicht an, als die ersten Worte hörbar werden.
„Pst! Pst! sonst wackeln die Kronen,
Ihr Herrn Professoren, seid still!
Und die fettigen Spießbürger loben
Die brave Polizei.“
Álvaro entgleitet ein leises Pfeifen.
„Ich bin beeindruckt. Ich habe nie studiert, kann mir aber gut vorstellen, dass es auch in meinem Land einigen Herren überhaupt nicht gefallen hätte, dies zu lesen.“
„Vielleicht war es auch die Gesellschaft, der ich damals entsteigen wollte. Ich habe mich umgeschaut und mich befragt, wo ich auf der Welt meinen Beitrag leisten kann.“
„So ganz selbstlos. Gerade wirst du mir etwas unsympathisch. Über die Jahre sind so manche von den Gutmenschen hier gelandet, haben uns und unser Leben mitleidig angeschaut, ließen sich in all ihre Barmherzigkeit herab, tauchten in unser aus ihren Augen erbärmliches Leben hinab und wollten uns schließlich ein besseres Leben bescheren. All dies, ohne uns zu kennen, ohne unser Leben, unsere Sitten und Gebräuche wirklich verstanden zu haben.“
„Entschuldige. Dein Einwand ist schonungslos direkt. Ich kann dir folgen und will ihn mir  zu Herzen nehmen. Lass uns an dieser Stelle jedoch nicht weiter in die Tiefe dringen. Habe Nachsicht, wenn ich eine Weile brauche, um aus meiner Haut zu steigen. Ich muss meine Herkunft nicht verleugnen und doch will ich sie, soweit sie mir am Hiersein hinderlich ist, zurückstellen. Ich bin jetzt hier und habe einen wundervollen Gastgeber und Meister des Lebens gefunden. Ihn und sein Leben will ich kennenlernen.“
Ich merke, wie Álvaro verlegen zur Seite schaut.
„Ich möchte mich bevor ich zu Bett gehe, bei dir für einen Tag bedanken, wie ich ihn schon lange nicht mehr erlebt habe. Mein Geist ist angeregt. Ich bin hellwach. Ich könnte mich, wenn mein Körper es zuließe, wahrscheinlich die ganze Nacht noch weiter mit dir unterhalten. Lass uns eine Pause machen und morgen unser Gespräch fortsetzten. Darf ich darauf hoffen?
„Gewiss. Es war mir eine Ehre, die letzten Stunden mit dir verbringen zu können. Eine gute Nacht wünsche ich dir.“
„Ich dir auch.“
Wir verabschieden uns mit einer spontanen herzlichen Umarmung.