In der Nacht habe ich unruhig geschlafen, bin einige Male aufgewacht und habe nur schlecht wieder in den Schlaf gefunden. Seit den frühen Morgenstunden liege ich nun wach in meinem Bett. Ich fühle mich aufgewühlt. Der gestrige Tag geht mir nach.
Sehnsuchtsvoll erwarte ich jenen für mich immer noch magischen Moment, wo die Dunkelheit endgültig vom Licht des Tages vertrieben wird. Beim Erblicken der ersten Sonnenstrahlen erfasst mich heute noch ein Schauer, etwas, von dem ich tief in mir glaube, dass es der Ehrfurcht vor der Tatsache zu leben geschuldet ist, jenem einzigartigen Erkenntnisfunken in uns, der uns zu verstehen gibt, dass nicht wir es sind, die das Leben, unser Leben in den eigenen Händen halten. Das Leben hält uns, die Urkräfte der Natur. Ob ich diese göttlich nenne, ist nebensächlich geworden.
Meine Bleibe ist klein und bescheiden, ein Bett, ein kleiner Tisch, ein Stuhl und ein klappriges Regal, in dem ich meine Sache beim Auspacken des Rucksackes wahllos verteilt habe. Die Mütze liegt unter einigen T-Shirts. Ob ich sie versteckt habe, kann ich nicht sagen. Bewusst sicher nicht. Vielleicht hätte ich sie besser zu Hause gelassen. Es ist mir fast peinlich, sie mitgenommen zu haben.
Es ist noch ruhig im Haus.
Ich greife zu einem der Bücher, die aufgestapelt auf dem Boden neben meinem Bett liegen. Es sind Tagebuchaufzeichnungen Ches. Im Eingang des Buches sind einiger Abschiedsbriefe mit abgedruckt. An seine Kinder ist einer überschrieben. Nach nochmaligem Lesen lege ich das Buch auf meiner Brust ab und starre an die Decke. Einige alte Wasserflecken schimmern wie eine schattige Seenlandschaft.
Die Zeilen bewegen etwas in mir, von dem ich nicht sogleich sagen kann, was es ist. Meine Eltern haben mir keine Abschiedsbriefe hinterlassen. Sie werden doch eher von Menschen geschrieben, die ihren eigenen Tod vor Augen haben. Letzte Gedanken in Worte gekleidet, den Menschen zugedacht, denen man sich verbunden weiß.
Es sind zwei Sätze, die in mir nachklingen.
Vor allem bewahrt euch stets die Fähigkeit, jede Ungerechtigkeit, die irgendwo auf der Welt begangen wird, auf tiefste zu empfinden. Das ist der schönste Charakterzug eines Revolutionärs.
Der Zweite hat für mich etwas Anmaßendes. Mir ist nichts über Ches Kinder bekannt. Jedoch empfinde ich, wie schon unter normalen Umstände die Erwartung, die Kinder würden in die eigenen Fußstapfen treten, zur unerträgliche Bürde werden kann. Ich bin froh, dass meine Eltern mich zu Lebzeiten nie mit dergleichen behelligt haben.
Ich frage mich, warum ich so abwehrend reagiere. Ist es das ungute Vermächtnis, dass uns vorhergehende Generationen mit auf den Weg geben und unser Leben allzu sehr verdunkeln kann.
Mein Blick erfasst einen Sonnenstrahl. Er ist dabei, den Raum Stück für Stück zu erhellen.
Als ich beide Sätze ein weiteres Mal lese, vollzieht sich in mir eine Wandlung. Die Ungerechtigkeit aufs tiefste empfinden. Ich frage mich, ob es genau dieses war, was mich vor vielen Jahren dazu veranlasst hatte, mich zu empören. Aber war es das wirklich? Oder war es nicht einfach en vogue gewesen, genau dieses zu tun? Die größte Empörung, zur Schau zu stellen, war möglich. Kaum einer würde nach dem daraus folgenden Handeln Ausschau halten.
Mit einem Mal erfasse ich, warum mich der zweite Satz so verstimmt hat. Jede Spur von Anmaßung weicht. An meiner Kehle spüre ich die scharfe Klinge der Erkenntnis, die mich nun niederstreckt. Sie ist kalt und scharf. Ich greife mir ins Gesicht, so als sei der Fausthieb von einst und meine Gedanken eins geworden.
„Steh zu dem, was du sagst und handle danach! Andernfalls verschon mich mit deinem Geschwätz, das nichts wert ist, nicht einmal den Aufwand, den es braucht, diese Wortblasen auszuspucken.“
Die Worte meiner Frau hallen immer noch in mir nach. Ihre Wirkung hat etwas Beängstigendes. Scham ergreift mich. Ich schleudere das Buch neben mich und springe aus dem Bett auf.
„Wer nicht handelt, hat jede Daseinsberechtigung verloren.“
„Du bist doch nicht anders“, habe ich ihr damals entgegengeschleudert.
Mir wird schwarz vor Augen. Ich suche an der Fensterbank Halt und atme frische Morgenluft ein. Sieh ruhig hin, sage ich mir, so unangenehm es auch sein mag.
Schreiend erhebe ich die Stimme.
„Du hast mich damals gar nicht anklagen wollen. Verflucht hast du mich, weil du selbst zu feige warst. Du hast mich für deine eigene Unentschlossenheit gehasst. Wie lächerlich muss ich mit meiner Mütze gewirkt haben, als dir dies bewusst wurde. Du bist gar nicht vor mir weggelaufen, sondern vor dir selbst. Meine Gegenwart, die dich jeden Tag an deine eigene Unzulänglichkeit erinnert hat, wurde dir unerträglich.“
Suchend blicke ich mich um. Keine Spur von meiner Frau. Wo bin ich? Was ist mit mir?
Langsam komme ich wieder zu mir. Ich hoffe, der Alte hat nichts von meinem Ausbruch mitbekommen. Und wenn, er wird mich nicht verstanden haben.
Lange stehe ich an diesem Morgen unter der Dusche. Irgendwann setze ich mich und lasse den Strahl auf meinen Kopf prasseln.
Das Gefühl von Scham bleibt.
Wie feige ich war, gestehe ich mir ein, als ich mich abtrockne. So verdammt feige. Nie habe ich wirklich erwogen, wie ich meinen ureigensten Beitrag zu notwendigen Umwälzungen in der Welt hätte leisten können. Bis heute nicht. Ich fühle mich erbärmlich.
Als ich zurück in mein Zimmer gehe, nehme auf meinem Bett Platz. Etwas in mir sucht nach Ablenkung. Gerne möchte für eine Weile, die Schwere der letzten Stunden hinter mir lassen. Nichts denken, einfach nur sein.
Beim Blättern in einem anderen Buch über Che fällt mein Blick auf eine Aufnahme, die mich sofort in den Bann nimmt. Sie zeigt Che mit seiner Tochter Hilda. Zwei liebevolle Blicke, die sich treffen. Der offen und zugewandte Blick beider rührt mich an. „Die zarte Blüte der Liebe“ steht unter dem Foto.
Ich blättere weiter. In einem späteren Brief an seine Tochter, der in einer kurzen Passage zitiert wird, lese ich: „Wenn du groß bist, wird dieser ganze Kontinent gegen den Feind kämpfen. Du wirst auch kämpfen.“ Was für Zeilen. Wo ist die zarte Blüte der Liebe zwischen Vater und Tochter geblieben.
Kann der, der kämpft nicht mehr lieben? Vielleicht ist es aber gerade umgekehrt. Nur der kann kämpfen, der wirklich liebt.
Mir schwirren die Gedanken.
Ich verlasse fluchtartig mein Zimmer und hoffe, dass der Alte endlich aufgestanden ist. Seine Gegenwart würde mir guttun.