Ches Mütze XI

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Ein angenehmer Duft kommt mir entgegen. Der Alte reicht mir eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffee.
„Hier, nimm erst einmal einen Schluck. Du siehst ja furchtbar aus. Was hast du heute Nacht gemacht? Hast keine Ruhe gefunden?“
„Zunächst ja, dann bin ich immer wieder aufgewacht und konnte schließlich nicht mehr einschlafen. Aber ich habe einen wunderbaren Sonnenaufgang erlebt.“
„Warst du im Garten?“
„Nein, ich habe einfach nur genossen, wie der neue Tag das Dunkel der Nacht vertrieben hat.“
„Alles Dunkel findet ein Ende. Nur die Astronomen wenden nüchtern ein, wie es ihre Art ist, dass unser verehrtes Tageslicht eines Tages verschwinden wird .“
Der Alte beginnt zu lachen. Sein Lachen hat etwas vom Gackern eines Huhnes. Es hüpft davon, schwillt an, um gleich wieder in sich zusammenzufallen.
„Was amüsiert dich, Álvaro?“
„Die Vorstellung, dass so viel Wirbel um 4 Milliarden Jahre gemacht wird. Manchmal scheint mir die Horde der Wissenschaftler nicht weniger gefährlich für die Psyche eines Menschen zu sein, wie mancher Pfaffe. Anstatt uns mit Gruselszenarien einzuschüttern, sollten sie uns doch Seelennahrung reichen, etwas das uns erfreut und den Geist erfrischt.“
„Nun ja, die Folgen des Klimawandels sind kaum noch zu übersehen und die Mahnungen werden in unseren Tagen doch gerne in den Wind geschlagen.“
„Ich will dir nicht widersprechen. Mit mehr Achtsamkeit gegen über unser Erde, wäre es jedoch nie soweit gekommen. Entschuldige, wenn ich pauschalisiere, du bist sicher anders, aber für viele von euch weißen Männer ist die Erde bis heute ein auszubeutender Steinbruch. Uns liegt dies fern. Oder zumindest ferner, denn die jüngere Generation will heute nicht minder in die Kosumwelt abtauchen.“
„Was würde dein Sohn hierzu sagen?“
„Er ist noch mit den alten Traditionen großgeworden, bis er eines Tages nur noch weg wollte, weil er das ärmliche Leben seines Vaters einfach satt hatte.“
„Wie hast du dies aufgenommen?“
„Es hat weh getan. Gleichwohl habe ich ihm Verständnis für seinen Wunsch nach Wohlstand entgegengebracht. Die Verbesserungen der Lebensbedingungen der eigenen Kinder sind ja schließlich ein vorrangiges Ziel jeden Familienvaters.“
„Sie sollen es einmal besser haben, sagt man bei und.“
„Bei uns auch. Und doch …“
„Was?“
„In den letzten Jahren, habe ich begriffen, das der Wohlstand nicht allein eine soziale Frage ist. Mir wurde mehr und mehr deutlich, welchen ungeheuren Folgen dieser Wohlstand für Mensch und Umwelt haben. Keiner kann heute den gleichen Wohlstand für die gesamte Weltbevölkerung wollen. Dies würde uns global doch binnen kürzester Zeit in die Katastrophe führen.“
Der Alte sieht mich fragend an.
„Siehst du das anders?“
Ich schüttele den Kopf.
„Ganz und gar nicht. Ich erinnere mich gut an den Tag, als ich zu meiner Frau sagte: Der neue Fernseher wird uns wohl für die nächsten zwanzig Jahre seinen Dienst erweisen. Sie hat mich verwundert angesehen und gemeint: Warte ab, spätestens im übernächsten Jahr wirst du wie alle anderen das neueste Modell haben wollen. Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten und zu leben heißt heute, sich diesem Fortschritt nicht zu widersetzen. Wer dies tut, bleibt zurück, verliert den Kontakt zur Welt und wird nicht mehr wahrgenommen. Der Wohlstand ist in den Mittelpunkt des Lebens getreten.“
„Und doch anders, als zu früheren Zeiten, in denen es vor allem darum ging, dass jeder einen angemessenen Lebensstandard hat. Vor einiger Zeit sah ich eine Karikatur in der Zeitung. Auf dem ersten Bild war ein Mensch in einem Hamsterrad abgebildet. Ihm wurde ein altes Tastentelefon vor die Nase gehalten. Er lief und lief, um dieses Telefon zu bekommen. Auf dem zweiten Bild war es nun ein Handy, das seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.“
Der Alte unterbricht sich selbst und schaut unschlüssig vor sich hin.
„Manchmal frage ich mich, ob der gute alte Che heute noch für die gleichen Ziele kämpfen würde. Vielleicht wäre er heute doch eher Ökuaktivist, würde die Wahrzeichen des Konsums und Luxus in die Luft sprengen.“
„Eine interessante Frage. Ich kann mir dies gut vorstellen. Die Feinde der Menschheit sind heute andere, oder die gleichen aber in einem anderen Gewand.“
„Ein Grund mehr an unseren alten Traditionen festzuhalten.“
„Du meinst deinen Glauben an Pachamama?“
„Du nennst es Glauben. Ich würde es Lebenshaltung nennen. Etwas, was mein ganz Leben bestimmt und nicht nur an gewissen Tagen Raum in meinem Sein findet. Bei uns gibt es ein Grundprinzip, das darin besteht, dass wir im Ausgleich und Einklang mit uns, unseren Mitmenschen und unserem Umwelt leben. Wenn ich also etwas von jemanden möchte, muss ich ihm zuvor etwas gegeben haben.“
„Ein Geben und Nehmen!“
„So ist es. Wenn es dich interessiert, kannst du später an einem Tagesritual von mir teilnehmen. Ich habe eine Stelle im Garten, an der ich Pachamama jeden Tag ein Opfer darbringe.“
„Du opferst?!“
Ich kann nicht glauben, was ich höre. Dieser so geistreiche Mensch ist einem alten Kultritualverfallen.
„Du hast wahrscheinlich den Eindruck, der Alte ist in der Vergangenheit, in längst überholten Zeiten steckengeblieben. Ich habe dir eben versucht zu vermitteln, dass es nicht um Glauben geht, sondern um eine Lebenshaltung. Der Gläubige eilt in die Kirche, wenn ihm etwas Schlimmes widerfahren ist, zündet eine Kerze an, schickt ein Stoßgebet gegen Himmel und erhofft sich eine Besserung seines Schicksals. Ich bringe Pachamama eine Gabe dar, sei es ein Stück Brot, etwas Obst, manchmal auch ein Gläschen Schnaps. Weil ich weiß, dass sie als Urquelle allen Seins, mir das Leben geschenkt hat, erweise ich ihr Respekt und Dank, jeden Tag. Ich verneige mich vor ihr und opfere ihr etwas. Ich begegne ihr im Wissen, dass unsere Beziehung ein Geben und Nehmen ist. Dabei geht es mir anders als beim Entzünden einer Kerze nicht um kausale Zusammenhänge, nach dem Motto, wenn ich dies tue, erhalte ich das. Auf meine Haltung kommt es an. Ich weiß, dass das Leben, andere Menschen, aber auch die Natur mir nur etwas geben, wenn ich selbst dazu bereit bin. Ich kann einen anderen Menschen nicht ausbeuten wollen, weil der geschundene Mensch gar nicht mehr in der Lage sein wird, mir etwas zukommen zu lassen. Mit der Natur ist es nicht anders.“
Ich bin verblüfft über die Ausführungen des Alten und kann nichts erwidern.
„Weil ich Teil eines Ganzen bin, gehe ich mit mir, meinen Mitmenschen und mit unserer Natur achtsamer um. Dies hat mich Pachamama gelehrt. Daran halte ich fest, weil es der Grund meines Seins ist.“
„Pachamama ist also keine tranzendentes Wesen, dass über allem steht?“
„Ihr Europäer mit eurer Transzendenz. Über Jahrhunderte habt ihr das Volk glauben lassen, dass das Wohl und Wehe des Menschen von dieser Tranzendenz, die ihr Gott nennt, abhängt. Habt die Menschen angehalten, ein gottgefälliges Leben zu führen. Habt Absolution für die Sünden erteilt und dem Frommen das Himmelreich versprochen. Das Leben an sich, habt ihr dabei aus den Augen verloren. Darum sind eure Kirchen heute leer. Der Mensch braucht keine Transzendenz. Er möchte hier und jetzt, in sich selbst den göttlichen Funken spüren und erfahren.“
„Ich kann dir nur zustimmen. Ich danke dir, dass du mir den Blick auf das, was ich bisher allzu abfällig als überkommene Ritual bezeichnet habe, erweitert hast. Ich werde dich gerne bei deinem Ritual begleiten.“
„Es freut mich, dass meine Worte dir etwas gegeben haben. Hast du nun noch etwas für mich?“
Ich überlege eine Weile und erinnere mich an die Strophe eines alten Dichters.
„Wenn du magst, kann ich dich mit einigen Zeilen eines alten Gedichtes erfreuen?!“
„Nur zu!“
Was wär ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,
So dass, was in Ihm lebt und webt und ist,
Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermisst.
„Wunderbar. Pachamama hätte es nicht besser in Worte kleiden können. Nun lass uns eine Kleinigkeit essen. Mir knurrt der Magen.“