Ches Mütze XII

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Während die Sonne am Himmel ihre Bahn beschreitet, vergessen der Alte und ich die Welt um uns herum. Die Gespräche der letzten Stunden haben das Band unserer Verbundenheit enger geknüpft.
Immer noch wundert es mich, dass zwei Menschen, die der Zufall zueinander geführt hat, einander so nahe kommen können.
Unser Redefluss gleicht einem in der einsamen Bergwelt entsprungenen Bach, der talwärts stürzt und von nichts zu bremsen scheint. Dort, wo sich ihm die Weite einer Ebene entgegenstellt, muss er sich sammeln, um erneut seinen Weg fortzusetzen.
Die Zeiten des Schweigens zwischen uns haben nichts Schweres. Gedanken sammeln sich, dann gibt wieder ein Wort das andere. Zwischendurch erhebt sich einer von uns, geht auf und ab, sammelt Worte, sucht in ihnen nach Sinn, um sie dann wie alten Kautabak einfach auszuspucken.
Welch ein Hochgenuss.
Selten in meinem Leben habe ich größere Freude an der Unterhaltung entwickelt. Kein Gedanke an eine äußere Welt, an Zeit, die vergeht, Verpflichtungen, die das Sein begrenzen.
Es ist ein Tanz der Worte, mit und ohne Sinn, dann und wann unterbrochen von einem herzhaften Lachen. Einzelne Worte ziehen wir kunstvoll in die Länge, wiederholen sie unzählige Male, modulieren ihren Klang kunstvoll, indem wir mit unseren Stimmen spielen.
Dann beginnen wir uns Laute entgegenzuwerfen. Daraus entwickelt sich ein Spiel, dessen Regel schnell gefunden ist, ohne dass dazu ein einziges Wort notwendig gewesen wäre. Stets gilt es den Laut des anderen aufzunehmen, ihn so getreu wie möglich zu wiederholen und durch einen neuen Laut zu ergänzen.
Irgendwann bleibt ein Junge aus der Nachbarschaft vor der Veranda stehen und schaut uns verwundert zu.
„Felippe, komm! Willst du mitmachen.“
Die Einweisung in unser Spiel ist kurz und schon bald ist er eins in unserem Reigen. Im Laufe der nächsten Stunde gesellen sich noch eine Reihe weiterer Kinder dazu.
Als wir vor Erschöpfung japsend am Boden liegen, strahlen unsere Gesichter. Unsere Wangen glühen.
„Kinder, bevor ihr wieder geht, lasst uns einen kleinen Mittagsschmaus halten.“
Eine Weile sitzen wir so schmatzend da, bis der Letzte gegangen ist, nicht ohne auf seine ganz eigene Weise Dank zu sagen.

Nach einer ausgiebigen Mittagspause setzen wir unser Gespräch bei einer guten Tasse Kaffee und etwas Gebäck fort.
„Hast du das Funkeln in den Augen der Kinder gesehen?“, frage ich den Alten.
„Sie hatten wahrhaft ihren Spaß. Aber wir nicht minder. Oder?“
„Das kannst du laut sagen. Ich habe mich schon lange nicht mehr so amüsiert.“
„Wie sieht es aus? Begleitest du mich nun zu meinem Tagesritual?“
„Was für eine Frage. Mit größtem Vergnügen.“
„Warte einen Augenblick, ich werde eben ein paar Kleinigkeiten holen. Wenn du magst, kannst du schon mal in den Garten gehen.“
Wenige Minuten später stehen wir in einer von Hecken umgebenen Nische des Gartens vor einer Ansammlung aufgeschichteter Steine, die entfernt an einen Altar erinnern. Der Alte beginnt die zusammengetragenen Dinge aus dem kleinen Bastkorb herauszuholen und sorgsam abzulegen. Es sind allerlei Früchte. Bei jeder einzelnen Frucht hält er kurz inne, murmelt etwas Unverständliches vor sich hin, verneigt sich kurz und positioniert sie sodann. Am Ende bleiben wir schweigend noch eine Weile stehen.

„Was geschieht mit den Früchten?“, will ich wissen, als wir auf der Veranda wieder Platz genommen haben.
„Der Garten ist offen und für andere frei zugänglich. Irgendwann am Abend wird jemand kommen und sich bedienen. Es gibt noch einige Familien, die dieses alte Ritual praktizieren.“
„Und nehmen darf nur der, der Pachamama vorher selbst etwas geopfert hat?“
„So ist es. Vielleicht hältst du es für eine Art Nachbarschaftshilfe, oder Tauschbörse? Aber es ist bedeutend mehr. Es ist unsere tägliche kleine Erinnerung an den Umstand, dass wir alle aufeinander angewiesen sind.“
„Von Autonomie keine Spur?!“
„Du sagst es. Es ist das tägliche Einwilligen in die Erkenntnis, dass wir ohne die anderen nicht existieren können.“
„Das ist so anders als das, was ich von klein auf kennengelernt habe. Wie sehr wurde mir vermittelt, alles dafür zu tun, um irgendwann unabhängig von anderen sein zu können.“
„Mit welchem Preis?!“
„Das ich das, was ich habe, ständig mehren und vor dem Zugriff anderer beschützen muss. Die Sorge um die eigene Existenz hat uns zu sehr einsamen Wesen werden lassen.“
„Weißt du, mit der Zeit weiß man genau, wo man was bekommen kann. Jede Familie, die das Ritual mitmacht, hat so ihre Eigenarten, bei dem, was geopfert wird. Selten bittet man jemanden um etwas. Wir warten lieber den Abend ab und holen uns dann, was uns fehlt. Täglich zu spüren, dass mir etwas zum Leben fehlt ist ein guter Lehrmeister. Es macht uns bescheidener. Wir kommen so nicht so leicht in die Versuchung, uns über die anderen zu erheben und uns als etwas Besseres zu fühlen.“
Wieder einmal haben mich die Ausführungen des Alten tief berührt.
„Und nicht selten machen wir unsere kleine Späße. Achte mal darauf, wenn du auf der Straße unterwegs bist und beobachte die Menschen hier, wie sie einander begegnen!“
„Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Gestern habe ich im Vorübergehen gehört, wie jemand sagte: Denk daran, heute Kartoffeln zu opfern. Sie sind uns ausgegangen und deine frisch geernteten sind die Besten.
„Genau das meine ich.“
„Eine besondere Art, mit den Dingen achtsam umzugehen, wie ich finde.“
Der Alte nickt verständig und fragt mich herausfordernd.
„Und was wirst du morgen opfern?“