Ches Mütze XIII

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Am Abend sitzen wir immer noch auf der Veranda. Unser Redefluss scheint kein Ende nehmen zu wollen.
„Für alles gibt es Rituale: Geburt, Tod, Hochzeit, Scheidung, Ernte, Schlachtung. Die Welt der alten Religionen hat sie nicht vergessen.“
„Welt der alten Religionen?! Was meinst du damit?“
„Ich will sagen, dass es vor der Zeit, in der man begann, aus den vielen Gottheiten eine zu machen, eine andere Art von Religion gab, eine, die der Natur, dem Leben in und mit ihr sehr nahe war. Keine Religion, die glaubte, sich über das Sein erheben zu müssen. Keine, die gar dem Menschen eine Sonderstellung innerhalb der Kreaturen einräumte und damit dem Raubbau an der Natur und der Ausbeutung der Artenwelt freien Lauf gab.“
Der Alte holt tief Luft.
„Die Welt des Wachstums kennt keine Rituale, wie wir sie noch heute feiern. Alles hat jedoch seine Zeit. In der jüdischen Bibel ist noch eine Erinnerung daran. Auch sie ist dabei zu vergehen.“
„Ich erinnere mich. Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit.
„Dieses und noch viel mehr. In der Welt des Wachstums löst eine Sache die andere ab. Tod und Sterben sind längst zum Ärgernis geworden, dem der Kampf angesagt wird. Wer kann da in Würde noch im Auf und Ab des Lebens existieren?“
„Es ist erschreckend, wie recht du hast.“
„Die modernen Gesellschaften verlieren jeden Bezug zu den alten Ritualen und damit zu unserem Ursprung. Die wenige Rituale, die ihr noch kennt, sind ganz in der Hand der Kirche. Das Monopol liegt bei ihr und wird von ihr gewinnträchtig für die eigenen Interessen missbraucht.“
Hier unterbricht der Alte seine Ausführungen, steht auf und breitet beide Arme aus.
Pachamama gehört niemandem. So einfach ist das. Oder allen, könnte ich auch sagen. In der Welt, in der ich groß geworden bin, war alles einem steten Wandel unterworfen. Dem Tag folgte die Nacht, der Zeit der Arbeit, die Zeit des Festes. Alles war miteinander verbunden. Rituale waren so etwas wie Fixpunkte, Zeiten des Innehaltens, Zeiten des Ausgleichs, Zeiten der Verwandlung. Ich erinnere mich gut an den Tag, als meine Großmutter starb. Ich kam von der Schule und hörte schon von ferne das Wehklagen aus unserem Haus. Meine Großmutter lag zurechtgemacht in einem ihrer Sonntagskleider auf dem übergroßen Esstisch. Während der Trauer über ihr Ableben hörbar Ausdruck gegeben wurde, saßen und standen alle um den Tisch herum. Es war ein buntes Treiben, dass ich später noch oft bei manchem Todesfall erleben durfte. Man war beieinander, aß und trank, trauerte und erzählte alte Geschichten. Trotz des Schmerzes über den Verlust eines geliebten Menschen, habe ich bei solchen Anlässen stets aufs Neue erleben können, wie eng Sein und Vergehen miteinander verwoben sind und welch großer Schatz im gemeinsamen Teilen dieser Grunderfahrung des Lebens liegt.“
„Wer etwas hat, will mehr. Jeden Tag aufs Neue. Die heutige Welt des Wachstums kennt keine Verluste, nur Gewinner und Verlierer.“
„Es scheint so. Dieses Denken ist wie ein Virus, der sich permanent ausbreitet. Auch bei uns sind diesem schon viele erlegen.“
Der Alte wendet sich zu mir und streckt mir seine Hände entgegen. Ich kann mit seiner Geste nichts anfangen und schaue ihn verwundert an.
„Sieh meine leeren Hände! Nur wer gibt, kann den Tag mit leeren Händen beginnen und sich von ihm beschenken lassen.“
„Soll ich von dem, der wenig oder gar nichts hat, etwas erwarten. Ist das nicht ein zynischer Anspruch?“
„Nein, eine alte Weisheit. Die Welt des Gebens und Nehmens folgt anderen Zusammenhängen. Ich war in meiner Kindheit einmal sehr, sehr traurig. Ich muss sechs, sieben Jahre alte gewesen sein. Damals hatte ich nur Augen für Rosa. Sie hatte langes pechschwarzes  Haar, in dem sich die Sonne spiegelte. An dem Tag, als sie ihren sechsten Geburtstag feierte, es war mein erster zu dem ich eingeladen wurde und ich kannte mich nicht aus, wusste also nichts von dem Brauch, dass man mit einem Geschenk dem Geburtstagskind eine Freude macht, also an diesem Tage stellte ich voller Entsetzen fest, dass es mir an einem Geschenk für meine angebetete Schönheit fehlte. Ich fing an zu weinen, rannte auf mein Zimmer. Der Tag war für mich gelaufen. Ich wollte von der ersehnten Geburtstagsfeier nichts mehr wissen und schwor mir, mein Zimmer an diesem Tage nicht mehr zu verlassen. Meine Mutter folgte mir. All ihre tröstenden Worte fanden lange keine Wirkung. Als sie irgendwann eine Hand öffnete und mir entgegenhielt, sah ich, dass sie mir ihre Haarbrosche reichte. ‚Nimm sie, sie ist nicht neu, aber darauf kommt es nicht an. Rosa wird sehen, dass du an sie gedacht hast und wird sich sehr freuen.‘ So war es dann auch. Später wurde Rosa meine Frau. Die Brosche existiert heute noch. Sie liegt in meinem Nachtisch. Manchmal hole ich sie heraus, betrachte sie, denke an Rosa und sage mir: Wer nichts hat, kann verschwenderisch sein, weil er weiß, dass ihm das Leben alles schenkt, was er braucht.“