Ches Mütze XIV

cropped-ches-mucc88tze-ii.jpg

„Ich will dir eine weitere Geschichte, genauer gesagt etwas erzählen, was sich wirklich zugetragen hat. Vor vielen Jahren gab es in der Nachbarschaft einen Jungen mit Namen Ricardo. Er war der Jüngste von fünf Geschwistern. Am Tage, als er geboren wurde, stieß der Vater einen Schrei der Erleichterung aus. „Endlich ein Junge“, hörte man ihn immer und immer wieder frohlocken. Seine Freude war so übergroß, dass er tagelang nicht nach Hause kam, fast die ganze Zeit in der Kneipe verbrachte und in den wenigen Stunden, da sie geschlossen war, auf einer nahegelegenen Parkbank seinen Rausch ausschlief. Es gab damals kaum ein männliches Wesen im Ort, das nicht auf den neuen Erdenbürger angerstoßen hat. Als er nach einigen Tagen nach Hause zurückkehrte und seinen Sohn stolz begrüßen wollte, stand eine alte Reisetasche vor der Tür. In ihr befanden sich seine gesammelten Habseligkeiten. Auf ihr lag ein Zettel. „Hau ab! Wir brauchen dich nicht. Wir kommen auch ohne dich klar.“, war zu lesen. Es war das letzte Mal, das Ricardos Vater gesehen wurde. Später hieß es, er sei einer der treuesten Gefolgsmänner Ches geworden. Ricardos Leben durchzog von Anbeginn eine große Ambivalenz. Anders als in den Abschiedszeilen angekündigt, fehlte es der Mutter am Nötigsten, um mit ihren Kindern über die Runden kommen zu können. Wen wundert, dass sowohl seine Mutter als auch seine Schwestern ihn deutlich spüren ließen, dass dieser Umstand allein seiner bloßen Existenz zu verdanken war. Früh ist Ricardo von zu Hause weggelaufen und hat sich irgendwelchen vagabundierenden Männern angeschlossen.“
„Ja, so manche Entbehrung im Leben hat weitreichende Konsequenzen. Ich könnte dir dazu einiges aus eigener Erfahrung dazu erzählen.“
„Bitte, ich bin ganz Ohr.“
„Nein, ein anderes Mal. Ich möchte nochmals auf etwas zurückkommen. Glaubst du wirklich, dass die Gier des Menschen zu bezwingen ist? Es hört sich doch eher wie ein unerreichbare Utopie an. Wenn dem so wäre, wären alle Revolutionen der Geschichte überflüssig gewesen.“
„Du magst recht haben, wenngleich ich in meinem Leben erfahren habe …“
„Das Geben seliger als Nehmen ist?“
„Du sagst es.“
Der Alte lachte kurz auf.
„Du kennst mich mittlerweile ja schon recht gut.“
Ich sehe den Alten skeptisch an.
„Aber es scheint mir nicht unerheblich, ob diese Lebenshaltung wirklich Konsens unter uns ist. Dies ist sie doch bis heute nicht. Und etwas Anderes gilt es ebenfalls zu bedenken: Wir können doch nur das weitergeben, was uns selbst einmal mitgegeben wurde.“
„Sicher und doch heißt es in einem alten Sprichwort bei uns: Eine ausgestreckte Hand wird nicht so schnell abgehauen wie eine mit einer Machete bewaffnete.“
„Daran ist etwas Wahres. Nur kann ich mir nicht vorstellen, dass man einen Despoten damit wirklich besänftigen könnte. Gewalt als letzter Ausweg scheint mir darum unvermeidbar.“
„Führen das nicht auch die Schurken aller Zeit an? Sie geben vor, im Dienste einer guten Sache zu handeln und greifen willfährig zur Gewalt.“
„So wie unser Che.“
„Mein Lieber, hier gehst du doch zu weit. Che mag in mancherlei Hinsicht umstritten sein, dennoch lässt er sich nicht einfach in eine Liste mit den großen Barbaren der Menschheitsgeschichte einreihen.“
„Was bist du plötzlich so milde? Habe ich nicht vor Kurzem noch kritischere Töne von dir über ihn vernommen?“
„Davon nehme ich auch nichts zurück. Dennoch, in der Wahl seiner Mittel bin ich anderer Meinung, in der grundsätzlichen Analyse der Dinge, die damals zu verändern waren jedoch nicht. Wer weiß, wenn die Zeit für viele nicht so hart gewesen wäre, dann hätte Ricardos Mutter möglicherweise gelassener mit der Sauftour ihres Mannes umgehen können.“
„Willst du damit andeuten, dass besondere Zeiten doch besondere Maßnahmen erfordern?“
„Hierüber habe ich ein Leben lang nachgedacht. Aber ich bin zu keiner abschließenden Erkenntnis gelangt. Wenn ich damals zu einer gefunden hätte, wäre es mir wohl doch möglich gewesen, mich anders zu verhalten, mich nicht, wie manch einer mir später vorgehalten hat, in den hintersten Winkel meines Hauses zu verkriechen und darauf zu warten, dass sich das Rad der Geschichte von alleine weiterdreht.“
„Im Augenblick denkst du mir zu schwarzweiß. Bedeutsame Momente im Leben zeichnet doch nicht allein der Umstand aus, sich für oder gegen ein konkretes Handeln zu entscheiden. Es sind aus meiner Sicht die größeren Zusammenhänge, die uns eine Entscheidung erschweren. Ich bin in diesen Tagen nochmals auf eine alte Aussage Ches gestoßen, die mich bis heute sehr beeindruckt.“
„Dann lass mal hören! Ich bin gespannt.“
Ich gehe auf mein Zimmer und komme mit einem abgegriffenen Buch zurück. Ich schlage es an einer Stelle auf, in der ein kleiner Fetzen Papier steckt und beginne die markierte Stelle vorzulesen:
Doch inzwischen habe ich ein Gespür bekommen für den Gegensatz zwischen der gewaltigen Aufgabe und dem Privaten. Ich bin immer noch derselbe Einzelgänger wie früher und suche meinen Weg ohne Hilfe anderer, aber jetzt kenne ich meine historische Pflicht. Ich habe keine Heimat, keine Frau, keine Kinder, keine Eltern, keine Geschwister, meine Freunde sind nur so lange meine Freunde, wie sie meine politische Meinung teilen. Und doch bin ich zufrieden, denn ich nehme etwas wahr in meinem Leben, nicht nur eine starke innere Kraft, die ich immer gespürt habe, sondern auch die Macht, andere mitzureißen und ein absolut fatalistisches Sendungsbewusstsein, das mir alle Angst nimmt.
Ich senke meine Stimme und halte einen Moment inne. Diese Stelle rührt, nein, sie rüttelt an mir, wie vor langer Zeit, als ich sie zum ersten Mal las, zu einem Stift griff und sie markiert habe. Es war einer jener ersten Frühlingstage, die ich lesend auf dem kleinen Balkon unserer Studentenwohnung verbrachte. Ich war regelmäßig froh, dass meine Mitbewohner in einer ihrer überfüllten Vorlesungen saßen, während ich solche gerade schwänzte, um lesend in eine ganz andere Welt einzutauchen. Die vorliegende Biographie hatte ich in einem alternativen Buchladen aufgestöbert. Sie ist für mich noch heute spannender als jeder Abenteuerroman. Ich erinnere mich gut, wie mich Stellen wie diese geradezu paralysierten.
„Es ist aus einem Brief Ches an seine Mutter“, ergänze ich.
Keine Heimat, keine Frau, keine Kinder, keine Eltern, keine Geschwister“, wiederholt der Alte fast abwesend mit kaum hörbarer Stimme.
Ich lege das Buch bei Seite, schaue den Alten an und warte darauf, dass er aus seinen Gedanken wieder auftaucht.
Plötzlich steigt ein Satz in mir auf, der in seiner verstörenden Wirkung dem gerade Zitierten in nichts nachsteht. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Wie kann man nur so denken? Wie kann man sich so aus allen Bindungen lösen und dies noch als Voraussetzung betrachten, um die gerechte Sache voranzutreiben?
„… und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden“, höre ich mich sagen.
Der Alte verharrt regungslos. Ich weiß nicht, ob er mich überhaupt gehört hat. Endlosen Minuten folgen, die mich unruhig werden lassen, bis ich aufstehe und die Veranda verlasse.