Als ich von der Toilette zurückkehre, stiert der Alte immer noch wie abwesend vor sich hin. Er nimmt mich nicht wahr. Ich bin irritiert. Was ist los mit ihm? Bei genauerem Hinsehen nehme ich wahr, dass seine Hände zittern.
„Geht es dir nicht gut?“, will ich wissen.
Keine Antwort.
Minuten des Schweigens vergehen. Der Alte scheint immer mehr in sich zusammenzufallen. Sein Oberkörper ist vornübergebeugt. Seine Arme hänge schlaff herab. Ein leises Schnaufen lässt allein darauf schließen, dass er noch lebt. Langsam beginne ich, mir Sorgen zu machen.
„Álvaro, war ist mir dir?“
Der Alte schaut nach einer Zeit auf, sieht mich mit starrem Blick an. Ich kann kaum ausmachen, was er wirklich wahrnimmt.
„Nun sag schon, irgendetwas stimmt mit dir doch nicht. Soll ich einen Arzt rufen?“
Seine abwehrende Geste mit den Armen lässt mich im Ungewissen.
„Wie kann ich dir helfen? Soll ich dir einen Tee machen?“
Der Alte schüttelt kaum merklich den Kopf.
„Vielleicht ist es besser, dich nicht weiter mit meinen Fragen zu löchern und dich eine Weile in Ruhe zu lassen. Ich werde mir etwas die Beine vertreten.“
Ich erhebe mich, ohne auf ein Antwortzeichen zu warten, und trete hinaus auf die Straße. Ziellos lasse ich mich treiben. Nach einigen Minuten finde ich mich auf der Plaza wieder. Die Parkbänke sind allesamt von verliebten Paaren und Jugendliche in Beschlag genommen. Auf den Stufen zur Kirche nehme ich Platz.
Das Licht der Straßenlaternen vermag das dichte Grün der hochgeschossenen Bäume nicht zu durchbrechen. Wie eine dunkle Wand säumen sie den Platz ein. Die am Tage sichtbaren gelben trompetenartigen Blüten lassen sich nur erahnen. Ein wenig mehr Licht in das merkwürdige Erscheinungsbild des Alten würde mir sichtlich weiterhelfen. Ich bin ratlos.
Muss ich mir wirklich ernsthafte Sorgen um den Alten machen, frage ich mich, als ich mich nach einiger Zeit wieder von den Stufen erhebe. Ich verspüre leichten Hunger und mache an einem noch offenen Straßenstand halt. Gestärkt setzte ich meinen Rückweg fort und bin gespannt, in welchem Zustand ich den Alten vorfinden werde.
Als die Veranda in mein Blickfeld kommt, meine ich den Alten immer noch zusammengesunken im Schaukelstuhl sitzend zu sehen. Dies stellt sich jedoch als Trugschluss heraus. Der Alte hat seinen Thron verwaist zurückgelassen. Offensichtlich ist er bereits zu Bett gegangen. Ich kann den nächsten Morgen kaum erwarten, erhoffe mir Aufklärung für sein eigentümliches Verhalten zum Ende dieses auch für mich aufwühlenden Tages.
Am frühen Morgen weckt mich ein Aufschrei. Ich fahre in meinem Bett hoch, horche. Ein erneuter Aufschrei, der nun mehr einem Schluchzen gleicht, lässt mich aus dem Bett springen. Ich glaube, das Schluchzen im Garten ausgemacht zu haben, und eile dorthin. Im fahlen Morgenlicht sehe ich einige unbekannte Gestalten im hinteren Teil des Gartens, an jener Stelle, an der sich der kleine Altar befindet.
Als ich näherkomme, erkenne ich an der Uniform zwei Polizisten, die die umstehenden Leute zu vertreiben suchen. Ich spüre, wie mich ein ungutes Gefühl erfasst. Was ist passiert? Am Boden kann ich eine liegende Gestalt wahrnehmen. Ich erschrecke. Der Alte, denke ich. Ich wende mich ab, trete einige Schritte zurück. Dann durchdringt ein erneuter Schrei ein nicht verständliches Stimmengewirr.
„Álvaro, geliebter Álvaro. Welche Bestie hat sich an dir vergriffen?“
Die Stimme hat etwas Metallisches. In ihrer Schärfe schneidet sie den Schleier der Ungewissheit entzwei, entblößt in ihrer Schonungslosigkeit etwas, vor dem ich zurückschrecke. Ich taumle, stürze zu Boden und verliere das Bewusstsein.
Später finde ich mich auf meinem Bett wieder. Man muss mich dorthin getragen haben. Als ich die Augen öffne, begegnet mir ein freundlicher und gleichzeitig trauriger Blick. Es ist der Nachbar, ein langjähriger Freund des Alten, dessen Namen ich nicht behalten habe.
„Es ist furchtbar. Álvaro ist ermordet worden. Mein Gott, ich kann es nicht fassen.“
„Álvaro ist tot?“, frage ich ungläubig. Ich kann nicht glauben, was ich höre.
„Ja.“
Nun laufen dem Nachbarn die Tränen durchs Gesicht.
„Es ist abscheulich“, fährt er fort, als er sich wieder etwas gefasst hat. „Stell dir vor, man hat ihm erst die Kehle aufgeschlitzt und beide Hände abgehackt. Sie sind verschwunden. Die Polizei sucht noch nach ihnen. Wer macht so etwas Bestialisches?“
Eine ungeheure Übelkeit steigt spontan in mir auf. Ich haste zur Toilette und übergebe mich. Dann breche ich schluchzend zusammen.
Álvaro ist tot, sage ich mir immer und immer wieder. Es sind Worte, deren Bedeutung meinen Geist überfordern. Ein heftiges Schütteln durchfährt mich. Ich zittere am ganzen Leib.
Vor mir sehe ich letzte Bilder des gestrigen Abends. Der Alte zusammengesunken auf seinem Schaukelstuhl. Ich hätte ihn nicht alleine lassen dürfen, durchzuckt es mich, als ich erneut das Bewusstsein verliere.