Ches Mütze XVI

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Der Polizeibeamte reicht mir einen Zettel.
„Verräter“, lese ich.
Ich bin immer noch fassungslos. Benommen hat es mich viel Kraft gekostet, die Polizeistation zu erreichen, in der bereits die zwei Beamten, die den Leichnam fanden, auf mich warteten.
„Kennen Sie die Handschrift?“
Unfähig zu sprechen, schüttel ich mehrmals mit dem Kopf.
„Wann haben Sie zum letzten Mal Álvaro Huertes gesehen?“
Beide Polizeibeamten sehen mich skeptisch an. Für sie scheine ich nicht unverdächtig zu sein.
Ich schüttele erneut den Kopf.
„Reden Sie! Oder haben sie etwas zu verbergen“, fordert mich der eine von beiden mit dem kahlgeschorenen Schädel auf.
„Ich habe nichts zu verbergen“, erwidere ich empört.
„Dann antworten Sie. Wann haben Sie Álvaro Huertes das letzte Mal gesehen? Sie waren doch Gast bei ihm.“
„Nun, wir haben den ganzen gestrigen Tag miteinander verbracht. Am Abend habe ich noch einen Spaziergang gemacht. Als ich wiederkehrte, war er nicht mehr auf der Veranda, wo wir die letzten Stunden verbrachten. Ich war im guten Glauben, er sei schon zu Bett gegangen. Heute Morgen bin ich durch Schrei im Garten geweckt worden. Den Rest wissen sie besser als ich.“
„Was wir wissen oder nicht, das können sie getrost uns überlassen. Ist Ihnen irgendetwas Bemerkenswertes aufgefallen? Hat sich Álvaro gestern Abend in irgendeiner Weise sonderbar verhalten?“
Ich bin hochangespannt, versuche in Bruchteilen von Sekunden die gestellte Frage zu erfassen und wäge mögliche Antworten ab, die keinen Anlass für weiteres Misstrauen geben.
„Nein“, antworte ich kurz und hoffe insgeheim, dass die Fragerei ein schnelles Ende nimmt. Ich fühle mich unwohl in meiner Haut. Gerne möchte ich selber erst für mich begreifen, was geschehen ist. Es ist noch zu früh mit anderen darüber zu reden. Dennoch merke ich, dass es wohl genau darum geht. Man will meine unsortierten Gedanken durchleuchten.
„Denken Sie nochmals nach. Jede kleinste Auffälligkeit ist von großer Bedeutung für uns. Es geht schließlich um Mord und nicht um Ladendiebstahl.“
Ich fahre mit der Hand an meine Stirn, gebe mich nachdenklich.
„Ich würde Ihnen gerne weiterhelfen. Aber ich kann Ihnen leider nichts weiter sagen.“
Nun schaltet sich der andere der beiden Polizeibeamten ein. Er wirkt auf den ersten Blick ruhiger. Seine Stimme ist weniger aggressiv, fast schon milde.
„Es muss für Sie ein Schock gewesen sein. Gerade noch haben Sie sich mit Álvaro unterhalten und wenige Stunden später wird er entstellt im Garten aufgefunden.“
„Ein Schock ist noch untertrieben. Ich bin völlig fassungslos… und dann die Hände…“
Hier unterbreche ich. Warte ab.
„Ja, das mit den Händen ist wirklich entsetzlich. Wir haben sie immer noch nicht gefunden. Darf ich fragen, worüber Sie sich unterhalten haben? Das haben Sie doch? Oder?“
„Gewiss. Álvaro habe ich bei der Busfahrt von der Hauptstadt nach hier kennengelernt. Wir saßen im Bus nebeneinander und wir haben uns gleich verstanden. Später hat er mich eingeladen bei ihm zu übernachten und ich habe diese Einladung dankend angenommen. Wir haben uns zuletzt über die Frage unterhalten, ob bestehendes Unrecht mit Mitteln der Gewalt abgewendet werden darf. In diesem Zusammenhang haben wir uns auch über Versuche revolutionäre Umbrüche in Ihrem Land unterhalten.“
„Sie sind wohl ein verkappter Bombenleger?“, schaltet sich der Glatzkopf mit barschem Ton wieder ein.
„Ganz und gar nicht. Ich vertrete die Meinung, dass Gewalt unter allen Umständen abzulehnen ist.“
„Dann sind sie also einer von diesen Nachfahren des Komandante?“
Der Glatzkopf schaut mich durchdringend an.
„Wie kommen Sie darauf? Ich komme aus einem Land, in dem man aus den Schrecknisse der Geschichte gelernt hat.“
„So, so. Wirklich?“
Der Glatzkopf blättert in seinen Notizen. Währenddessen ergreift der Milde das Wort.
„Würden Sie sagen, Álvaro hat dies auch so gesehen?“
„Soweit ich in der Kürze der Zeit, in der ich Gelegenheit hatte, Álvaro kennenzulernen, sagen kann, würde ich dies bestätigen. Hier waren wir uns einig.“
„Sieh an. Und worin nicht?“, schleudert mir der Glatzkopf aufblickend entgegen.
„Wollen Sie mir das Wort im Munde verdrehen? Ich kann und will nicht jedes Wort unserer Unterhaltung wiedergeben. Aber es gibt wahrlich keinen Anlass, misstrauisch zu werden.“
„Gibt es den denn.“
„Nein, das habe ich gerade doch gesagt.“
Ich hole tief Luft. Die Luft in diesem Raum ist stickig.
„Könnten Sie bitte das Fenster öffnen! Ich bekomme kaum Luft.“
„Mach das Fenster auf!“, befiehlt der Glatzkopf dem Milden. Dieser folgt der Anweisung widerwillig. Offenbar ist ihr Miteinander nicht ganz spannungsfrei.
„Hätten Sie vielleicht auch noch ein Glas Wasser für mich?“
Wortlos zieht der Milde ab und kommt bald schon mit einem Glas Wasser wieder. Ich bedanke mich und leere das Glas in einem Zug.
Der Glatzkopf beginnt mit seinem Stift wie wild auf seinen Schreibtisch zu klopfen. Ich muss mich beherrschen, um nicht die Fassung zu verlieren. Am liebsten würde ich aufspringen und ihm den Stift entreißen. Ich bleibe ruhig. Äußerlich. Innerlich koche ich. Da ist er wieder, dieser alte Hass auf jeden Polizeibeamten. Ich wende den Blick auf den Milden. Er lächelt verlegen.
„Kommen wir endlich zur Sache,“ erklärt der Glatzköpfige. Seine Stimme ist erstaunlich ruhig geworden. Pass auf, denke ich. Alles nur Taktik.
„Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen. Im Übrigen möchte ich mich erst mit meiner Botschaft in Verbindung setzen.“
„Aber mein Herr, wer wird den schon. Es handelt sich doch nur um ein Routineverhör. Das muss so sein, wie Sie sich denken können. Auch wir sind im Grunde von Ihrer Unschuld überzeugt.“
Unschuld? Werde ich also tatsächlich für verdächtig gehalten. Es ist unfassbar.
„Kann ich gehen?“, frage ich. Ich will so schnell wie möglich hier raus.
„Aber sicher“, entgegnet der Glatzköpfige fast singend.
„Sie werden verstehen, dass Sie sich dennoch bis auf weiteres für weitere Gespräche bereithalten müssen.“
Ich überlege mir eine Erwiderung, beschließe dann aber doch, mich verständig zu zeigen.
„Wann immer es Ihnen beliebt. Sie wissen ja, wo Sie mich finden werden.“

Als ich das Polizeigebäude verlasse, begegnen mir die neugierigen Blicke der Umherstehenden. Hier sprechen sich Neuigkeiten wirklich schnell herum, denke ich und erinnere mich dabei an Álvaros Worte.
Ohne auf den Weg zu achten suche ich das Weite.
„Der Komandante lebt.“
Ich schrecke auf. Vor mir steht der Junge, der mir vor Tagen im Park mit seinen Kumpanen begegnet ist. Er lacht mich verschmitzt an.
„Die Hände sind weg. Wie damals beim Komandanten.“
„Welche Hände?“, frage ich und werde mir dann bewusst, was der Junge mir zu verstehen geben will.
„Du erinnerst dich nicht?“
Ich gebe keine Antwort.
„Nun, dann will ich dir eine kleine Nachhilfe in Geschichte geben. Damals als man unseren Komandete kaltblütig ermordet hat, wie unseren Álvaro, hat man ihm die Hände abgehackt, damit man zu einem späteren Zeitpunkt seine Leiche, die man irgendwo verschachert hat, nicht mehr identifizieren konnte. Bis heute hat man sie nicht gefunden. So weit so gut. Mit dem einen Unterschied: Damals wollte man etwas verschwinden lassen. Und heute Nacht hat man nur daran erinnern wollen. Die Hände von Álvaro werden schon bald wieder auftauchen.“
Woher weiß der Junge all dies? Man hätte ihn besser verhört. Die Polizei wäre bei ihm fündiger geworden. Oder weiß mittlerweile das gesamte Städtchen mehr als die Polizei? Vielleicht gibt sie sich auch nur so, um so schneller die notwendigen Indizien zur Ergreifung des Täters zusammentragen zu können.
„Ach, und du weißt auch, was auf dem Zettel bei der Leiche stand?“
Nimmt das alles kein Ende?, frage ich mich fassungslos. Der Junge ist kaum älter als sieben, acht Jahre und mimt den Erwachsenen.
„Doch, ich weiß es“, versuche ich, ihn abzuwimmeln. Als ich meinen Weg fortsetzen will, stellt er sich mir in den Weg.
„Nicht so schnell, Alter. Außerdem ist das die falsche Richtung.“
„Geh mir aus dem Weg!“, fordere ich ihn auf.
„Nicht ohne, dass du mir eine kleine Belohnung für meine Nachhilfestunde gegeben hast.“
Widerwillig greife ich in meine Hosentasche, hole ein paar Münzen heraus und schleudere sie auf den Boden. Gierig bückt der Junge sich und greift nach ihnen. Ich beschleunige meinen Schritt und biege um die nächste Straßenecke.