Auf Umwegen gelange ich zurück zu Álvaros Haus. Beim Näherkommen erkenne ich eine Gestalt auf der Veranda, die ihm zum Verwechseln ähnlichsieht. Für einen Moment hoffe ich, aus dem Alptraum des Tages aufzuwachen, Álvaro begrüßen und unser Gespräch bei einem guten Kaffee fortsetzen zu können.
„Sie müssen Clemens sein“, begrüßt mich eine freundliche Stimme, als ich die Veranda betrete.
„Ich bin Álvaros Sohn. Die Polizei hat mich über die schrecklichen Ereignisse informiert und ich bin gleich hierher gekommen.“
„Mein herzlichstes Beleid. Ich bin noch ganz benommen. Ich kann immer noch nicht fassen, was geschehen ist. Wer ist zu so einer bestialischen Tat fähig?“
„Hier in dieser Stadt herrschen anderen Gesetze. Ich bin zwar schockiert über die Tat, aber so ganz überrascht sie mich nicht. Mein Vater war nicht bei allen gut angesehen. Seine Haltung, oder soll ich besser Zurückhaltung in den unruhigen Zeiten der Vergangenheit, nehmen ihm bis heute manche übel.“
Pachos Bemerkung wirkt sonderbar kühl und abgeklärt. Sein Verhältnis zum Vater wird nicht zum Besten gestellt gewesen sein.
„Vater und ich haben unsere Geschichte. Sie war nicht ohne Konflikte. Und die Tatsache, dass ich es vor Jahren in dieser Einöde und Abgeschiedenheit nicht mehr ausgehalten habe, folglich weggezogen bin, hat den Abstand zwischen uns nicht verringert. Ganz im Gegenteil. Als Tourist mag man diesen Ort idyllisch finden. Für mich hat sich seit meiner Kindheit kaum etwas verändert. Doch, die Bäume im Park sind gewachsen. Aber sonst.“
„Ich war in den letzten Tagen gerne hier, nicht so sehr als Tourist. Denn gesehen habe ich wirklich noch nicht viel. Ich bin dazu noch gar icht gekommen. Ihr Vater war so freundlich mich aufzunehmen.“
„Fühlen Sie sich weiterhin willkommen. Bleiben Sie, so lange Sie wollen. Ich weiß ehrlich gesagt noch nicht, was ich mit dem Haus machen werde.“
Pacho schaut mich mit seinen dunklen Augen an. Sie haben etwas Vertrautes. Wie immer das Verhältnis der beiden zueinander auch gewesen sein mag, es gab etwas, was sie verband.
„Die Gastfreundschaft Ihres Vaters habe ich genossen und ich wäre froh, wenn ich für eine Weile weiterhin hier bleiben könnte. Die Polizei wünscht außerdem, dass ich mich bereithalte.“
„Bereithalte? Sie können doch kaum etwas zur Aufklärung des Mordes an meinen Vater beitragen.“
„Das sehe ich auch so. Wir sind uns zwar in den letzten Tagen durch unsere Gespräche sehr nahe gekommen und ich hatte gelegentlich den Eindruck, wir würden uns schon ewig kennen. Dennoch bezweifle ich, dass ich für die Ermittlungen in irgendeiner Weise hilfreich sein kann.“
Durch Pachos Gesicht geht ein kurzes Zucken, kaum wahrnehmbar.
„Es freut mich, dass mein Vater offensichtlich einige angenehme letzte Lebenstage hatte. Viele Freunde hatte er ja nicht mehr.“
Ich wundere mich erneut über den merkwürdig kühlen Unterton seiner Worte, will aber nicht weiter darauf eingehen. Vielleicht werde ich zu einem passenderen Zeitpunkt noch die Möglichkeit haben, ihn darauf anzusprechen.
„Sie werden sicherlich auch noch von der Polizei vernommen?“
„Davon ist auszugehen. Ich werde später auf die Polizeiwache gehen. Obwohl ich auch nicht viel zu sagen habe. Ich bin in den letzten Jahren ja kaum noch hier gewesen. Zuletzt zu Weihnachten. Jeder von uns hatte sein eigenes Lebens. Und seit dem Tod meiner Mutter, hat mich noch weniger nach hier gezogen.“
Da ist wieder dieser eigentümliche Unterton. Ich bin versucht, nun doch darauf einzugehen. Pacho kommt mir mit einer Frage zuvor.
„Welchen Eindruck hatte Sie von meinem Vater?“
„Für mich wirkte ihr Vater wie ein älterer Herr, reich an Erfahrungen, reich an Einsichten, mit festen Standpunkten.“
„Festen Standpunkten. Eine nette Umschreibung für unverrückbare Tatsachen. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, wir kennen uns gerade einige Minuten und im Grunde sollten wir mit anderen Dingen beschäftigt sein. Aber, wenn die Umstände es so mit sich bringen und wir schon dabei sind, warum nicht. Mein Vater war für mich als Sohn Vorbild und Zumutung in einem. Mit seiner Sicht der Dinge warb er weniger um das Verständnis anderer Menschen. Seine Art und Weise das Leben zu betrachten hatte etwas sehr Bestimmendes. Andere Meinungen ließ er kaum zu.“
„Mein Eindruck war nicht ganz so. Aber ich will Sie nicht unterbrechen.“
„Wir haben uns in den letzten Jahren oft gestritten. Manchmal habe ich mich gefragt, warum ich überhaupt noch den Weg von der Stadt hierher auf mich nehme. Meist sind wir schon bei Kleinigkeiten aneinander geraten.“
„Ein Zeichen, dass ihrem Vater wohl trotz ihrer Differenzen immer noch viel an ihnen lag.“
Der Gesichtsausdruck Pachos gefriert abrupt. Ich bin versucht, meine letzte Bemerkung zurückzunehmen. Etwas verstohlen lasse ich meinen Blick schweifen, während ich innerlich meine Gedanken zu sammeln versuche. Eigentümlich wie schnell sich auch zwischen Álvaros Sohn und mir nach wenigen Minuten Vertrautheit einstellt.
Vielleicht ist sie aber nur dem Umstand geschuldet, dass man in außergewöhnlichen Situationen nicht lange um den heißen Brei herum reden muss, schneller auf das Eigentliche zu sprechen kommen kann. Nur was ist das Eigentliche? Was hat sich hinter diesem freundlichen Alten wirklich verborgen. Ich bin neugierig, auf die weiteren Ausführungen seines Sohnes.
„Ich sehe, meinem Vater ist es gelungen, Sie binnen kurzer Zeit für sich zu gewinnen. Kein Wunder, er hat wirklich etwas Gewinnendes. Das muss ich ihm lassen. Auch wenn er Seiten an sich hatte, die zum Weglaufen waren. In der Pubertät war dies gut für mich. Ich war gezwungen, mich auf der Suche nach mir selbst damit auseinanderzusetzen. Es hat mir geholfen meinen Standpunkt zu finden. So hart er sein konnte, er blieb stets fair. Gelegentlich hatte ich den Eindruck, es bereite im diebische Freude mich herauszufordern. Aber in einer Sache sind wir nie zusammengekommen und die hat uns dauerhaft entzweit.“
Hier unterbricht Pacho seine Worte, schaut mich lange durchdringend an. Er scheint mich zu mustern. Möglicherweise fragt es sich nur, ob er gewillt ist, das Weitere einem wildfremden Menschen anzuvertrauen.
„Mein Vater war nie damit einverstanden, dass ich einfacher Lehrer in einer kleinen staatlichen Schule in einem der Außenbezirke der Stadt geworden bin. Schlecht bezahlt, ohne Karrieremöglichkeiten.“
Nun ist kein Halten mehr. Mehr und mehr habe ich sogar den Eindruck, er habe meine Gegenwart vergessen. Eruptiv bricht aus im heraus.
„Die unruhigen Zeiten der Vergangenheit lagen seit Jahren hinter uns, wenngleich das Land längst nicht zur Ruhe gekommen war. Mein Vater hing immer noch an den alten Ideen von einem großen gesellschaftlichen Umbruch. Er träumte von weitreichenden Veränderungen vor allem in den ökunomischen Verhältnissen des Volkes. Ich dagegen war fest davon überzeugt, dass vor allem Bildung der Schlüssel in eine bessere Zukunft sei. Ich habe meinem Vater wieder und wieder vorgehalten, dass eine ungebildetes Volk besser zu manipulieren sei.“
„Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. In meinem Augen lässt sich, wenn ich das anmerken darf, das Eine gegen das Andere nicht gegeneinander ausspielen. Bildung und Grundversorgung sind gleichermaßen entscheidend.“
Innerlich bereue ich, ihn unterbrochen zu haben. Unbeirrt, so als habe er meine Ausführungen gar nicht gehört, fährt er jedoch fort.
„Die Zeit der gewaltsamen Revolutionen war endgültig vorbei. Dies hat er nicht hören wollen. Manchmal schien es mir, als habe er noch eine alte offene Rechnung zu begleichen. Einmal habe ich ihm dies auf den Kopf zugesagt, ihm unterstellt, er würde nur sein schlechtes Gewissen beruhigen wollen. Seinen Wankelmut sei jedoch durch nichts rückgängig zu machen. Auch keine seiner noch so flammenden Reden zur Bekämpfung sozialer Missstände in der Gegenwart. Es war ihm Grunde das letzte Mal, dass wir über politische Themen unterhalten haben. Fortan haben wir beide es vermieden, auf diese zu sprechen zu kommen. Unser Gespräche flachten ab und damit bekam auch unsere Beziehung etwas Laues. Dem Umstand, dass wir Vater und Sohn waren, ist alleine zu verdanken, dass wir sporadisch Kontakt hielten.“
Zwei Personen, die im Schatten unseres Blickfeldes auftauchen, lassen uns aufschrecken. Es sind der Glatzkopf und der Milde, die plötzlich vor uns stehen.