Pacho reicht mir einen Kaffee und nimmt neben mir auf der Veranda Platz. Es ist noch nicht lange her, dass Álvaro und ich hier saßen.
„Beeindruckt hat mich vor allem, wie sehr er in sich ruhte.“
Diese Feststellung geht mir einfach nicht aus dem Kopf.
„Dies steht in so krassem Gegensatz zu den Ereignissen, die zu seinem Tod geführt haben.“
„Ich kann Sie gut verstehen. Wer durchschaut einen Menschen schon ganz. Hinter der äußeren Fassade verbirgt sich doch oft eine ganz andere Wirklichkeit.“
Pacho wirkt nachdenklich.
„Darf ich Sie etwas fragen, Pacho?“
„Nur zu. Fragen Sie.“
„Mich berührt, wie… mir fällt nichts anderes ein, entschuldigen Sie bitte… ich meine wie distanziert manches von dem wirkt, was Sie über Ihrem Vater sagen.“
„Ach wissen Sie, familiäre Beziehungen und Verbundenheiten sind so eine Sache für sich. Im Grunde sind mein Vater und ich uns ziemlich ähnlich.“
„Mir fällt auf, wie Sie in Ihren Formulierungen dazu neigen, Ihren Vater lebendig zu halten.“
Pacho sieht mich nickend an.
„Sie haben recht. Auch mir fällt es schwer, den Umstand seines Todes hinzunehmen. Mein Vater und ich standen uns trotz allem sehr nahe. Er war und bleibt mein Vater. Neben einer tiefen inneren Verbundenheit, waren wir beide überzeugt davon, nicht in der besten aller Welten zu leben. Gleichwohl waren die Prämissen, die wir für unser Leben gezogen haben, sehr verschieden. Unterschiedlicher hätte sie nicht sein können … und dies hat uns dauerhaft entzweit. Er ist nie über die innere Befindlichkeit hinaus gekommen, sich als Opfer seiner Umstände zu sehen. Für mich war er mehr Zuschauer als Akteur.“
„Zuschauer?! Was meinen Sie damit.“
„Er hat beobachtet, Begebenheiten trefflich analysiert. Darin war er, ohne je studiert zu haben, ein Meister.“
„Das hat mich in unseren Gesprächen auch sehr beeindruckt. Aber ich höre in Ihren Worten einen Unterton. Was werfen Sie ihm vor?“
„Ich bin nicht sicher, ob ich ihm etwas vorwerfen soll. Er war der, der er war. Aber er hätte mehr Achtung und Respekt vor dem haben können, was ich als Konsequenz aus unseren gemeinsamen Grundanalysen gelebt habe. Ich sehe ihn vor mir, wie er nach endlosen Diskussionen plötzlich in sich zusammenfiel. Dann starrte er manchmal für Stunden nur noch vor sich hin, sagte kein Wort, war nicht mehr ansprechbar.
„Dies erinnert mich sehr an unseren letzten gemeinsamen Abend. Es war, wie sie gerade treffend beschrieben haben. Zunächst wirkte er nachdenklich, konzentriert. Dann kaum merklich fiel etwas in ihm wie ein Kartenhaus zusammen. Reste einer äußerlich erhaltenen Fassade konnten über das Ausmaß des Zusammenfalls nicht hinwegtäuschen. Dies war der Augenblick, als ich aufstand, um mir eine Weile die Füße zu vertreten. Als ich zurückkehrte, saß er nicht mehr auf der Veranda. Ich ging davon aus, dass er zu Bett gegangen sei. Hätte ich doch einfach einmal nach ihm geschaut. Vielleicht hätte ich dann diese furchtbare Tat verhindern können.“
„Machen Sie sich keine Vorwürfe.“
Einen kurzen Moment hält Pacho inne, um dann fortzufahren.
„Es ist bemerkenswert, dass auch Sie in Ihrer kurzen Zeit mit ihm dies miterlebt haben. Ich bin bis heute nie so recht hinter die Zusammenhänge seiner Stimmungsschwankungen gekommen. Oft habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, keine passende Antwort gefunden. Am Ende, nach unzähligen Jahren bin ich meist wie Sie aufgestanden und gegangen. Ich habe lange dafür gebraucht, mir einzugestehen, dass ich gehen muss. Zu lange, wie ich heute weiß.“
Pacho springt auf und beginnt unruhig auf und ab zu gehen.
„Mir scheint, je unfähiger er selbst war, um so mehr hat er mich dafür gehasst, wenn ich meinen Weg zielstrebig gegangen bin.“
„Wie kann ein Vater seinen eigenes Kind hassen?“
„Vielleicht ist meine Formulierung ein wenig harsch. Obwohl, wenn ich Moral und Anstand beiseite lasse, trifft es doch ziemlich genau das, was ich im Tiefsten empfunden habe. Distanz, absolute Distanz … und Kälte.“
Pacho bleibt stehen.
„Wie sehr habe ich mir immer gewünscht, er könnte sich einfach mit mir freuen … selbst wenn er zeitlebens beschlossen hatte, einen anderen Weg zu gehen.“
„Das kann ich gut verstehen. Nun wird keine Gelegenheit mehr bleiben, sich auszusprechen.“
„Je älter man wird, wird es darum umso bedeutsamer, mit sich selbst im Frieden leben zu können. Der tägliche Kampf um das eigene Überleben wirft schon genug auf, das erst einmal bewältigt werden muss. Sich stets aufs Neue von seiner Vergangenheit, all den unerledigten Etappen seiner Existenz einholen zu lassen, wird irgendwann ein müßiges Unterfangen.“
„Und doch bleibt die Illusion, die Vergangenheit durch die Gegenwart korrigieren zu können. Sie ist wie Stachel, der tief in uns steckt. Bevor ich meine Reise hierher angetreten habe, war ein Impuls in mir. Ich wollte etwas längst Vergangenes, besser gesagt Versäumtes, nachholen. Seitdem ich hier bin – und dazu hat dein Vater nicht unmaßgeblich beigetragen – ist alles ganz anders gekommen. Ich kann mir mittlerweile keinen passenderen Zeitpunkt für mein Hiersein vorstellen. Wenngleich mich die letzten beiden Tage nicht gerade beglücken.“
Als Pacho mit der Hand durch sein Haar fährt, sitzt mir Álvaro für den Bruchteil einer Sekunde gegenüber.
„Ich bin so dankbarer, dass wir uns austauschen können. Mit dir sprechen zu können, setzt, auch wenn es dir wahrscheinlich nicht gefallen wird, dies zu hören, die gewonnene Vertrautheit mit deinem Vater fort. So unähnlich seit Ihr Euch gar nicht.“
„Ich will es mal als Kompliment annehmen.“
„Das kannst du getrost. Ihr beide seit besondere Menschen, das heißt, dein Vater war es und du kommst ihm nach. Auch in deiner Gegenwart fühle ich mich wohl. Dies kann ich nicht von all zu vielen Menschen in meinem bisherigen Leben sagen. Ich heiße übrigens Clemens.“
„Danke, Clemens, für das Kompliment, dass ich gerne erwidere. Dein Hiersein macht es mir leichter mit dem Schrecklichen klarzukommen. Ich hoffe du verlässt uns nicht so bald.“
„Davon kannst du getrost ausgehen. Die Polizei wird schon etwas dagegen haben. Aber sag, was meinst du mit uns!?“
„Nun ja meinen Vater und mich. Irgendwie ist er doch noch hier.“