Als ich von der Toilette wiederkomme, schreckt etwas in mir auf, von dem ich im ersten Augenblick noch nicht sagen kann, was es ist. Ich setze mich und blicke zu Pacho.
„Alles in Ordnung?!“, will ich wissen.
Keine Antwort. Erst jetzt fällt mir auf, dass Pacho abwesend vor sich hinstarrt. Offenbar hat er meine Frage gar nicht wahrgenommen. Sein linker Fuß wippt unruhig auf und ab. Was ist los mit ihm, frage ich mich und beschließe, ihn erneut anzusprechen.
„Pacho, geht es dir nicht gut?“
Wieder keine Reaktion. Ich stehe auf und mache einen Schritt auf ihn zu. Als ich eine Hand nach ihm ausstrecke, zuckt er zusammen und blickt mich erschreckt an.
„Pacho, ich bin’s! Was ist nur los mit dir?“
Ich muss meine Frage mehrfach wiederholen, bis ich endlich eine Antwort erhalte.
„Tut mir leid. Ich fühle mich wie gelähmt, ohne sagen zu können warum. Mir ist kalt.“
„Soll ich dir einen Tee machen“, schlage ich vor.
„Lass uns ein paar Schritte gehen!“
Ich willige ein.
Wir stehen beide auf. Die tiefstehende Sonne blendet uns, als wir den Schatten der Veranda verlassen und auf die Straße treten. Vorbeigehende Passanten nehmen keine Notiz von uns. Sie scheinen Teil einer Kulisse zu sein, die keinen realen Hintergrund für das abgibt, was gerade geschieht.
Meine Gedanken tauchen ab. Bald schon fangen die Bilder meines Kopfkinos an zu laufen.
„Lass diesen Unfug“, faucht mein Vater mich an.
„Ich habe keine Lust, für deinen Unsinn gerade zu stehen.“
Der blecherne und helle Aufprall eines Steines auf der Stoßstange eines parkenden Autos hat uns beide aufgeschreckt. Mit schlechtem Gewissen senke ich den Blick. Ich habe nach dem erst besten Stein getreten und dieser hat seine Wirkung nicht verfehlt.
Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander her. Ich mache jedes Mal einen weiten Bogen, wenn ein Stein in Trittweite vor mir auftaucht. Ich will meinen Vater weder provozieren, noch weiter verärgern. An seinem Gesichtsausdruck kann ich erkennen, wie sehr ihn etwas beschäftigen muss.
Wir gehen ziellos weiter. Zwischen uns Schweigen.
In mir formen sich Sätze wie „Sag doch endlich, was du von mir willst!“, „Wie viele Steine muss ich denn noch wegtreten?“, „Ich wäre besser zu Hause geblieben.“
Endlich bricht mein Vater das Schweigen.
„Hör zu mein Junge! Vergiss, was du heute aufgeschnappt hast. Daran ist gar nichts, aber auch gar nichts dran. Hörst du?“
„Wovon redest du?“
„Du weißt schon.“
Ich will es ihm nicht leicht machen und schüttle den Kopf.
„Jetzt tue nicht so! Du hast mitbekommen, worüber deine Mutter und ich uns in den Haaren hatten.“
Ich schließe die Augen, gehe aber weiter und falle dabei fast hin.
Die Erde möge sich unter mir auftun und mich einfach verschlucken. Mir ist alles zuwider. Ich will mit allem nichts mehr zu tun haben, nicht länger Teil dieser Welt sein.
Ich bleibe stehen.
„Nun komm schon. Ich kann alles erklären. Es ist nicht so, wie du denkst.“
Da ist das Stichwort.
„Was denke ich denn?“, frage ich herausfordernd, während ich meinen Gang wieder aufnehme.
„Du denkst sicher, so sehr wie deine Mutter sich aufgeregt hat, muss etwas dran sein an dem, was sie mir vorhält.“
„So, was hält sie dir denn vor? Ich weiß wirklich nicht, was man dir vorhalten könnte.“
„Lass bitte den ironischen Unterton. Du weißt genau, worum es geht. Wir haben deinen entsetzten Blick über die Worte deiner Mutter genau gesehen. Wir dachten, du wärst auf deinem Zimmer. Aber plötzlich standst du direkt vor uns. Und dann bist du weggelaufen. Ich bin direkt hinter dir her.“
Mir ist immer noch nicht nach Reden zumute. Ich will nichts hören. In Gedanken halte ich mir die Ohren zu, sehe meinem Vater dabei zu, wie seine Lippen sich unablässig bewegen.
Am Ende nimmt er mich in den Arm. Seine Nähe ist mir unangenehm und ich winde mich.
„So, nun weißt du, was vorhin los war. Kein Grund sich irgendwelche Gedanken zu machen.“
Zaghaft nickte ich, ohne sagen zu können, wozu ich meinem Vater meine Zustimmung gegeben habe.
Am Ortsausgang nehmen wir eine Abbiegung. Schon bald geht es bergan. Schweigend gehen wir nebeneinander her. Auf einer kleinen Anhöhe hält Pacho an.
„Hier oben waren mein Vater und ich jedes Mal, wenn zu Hause dicke Luft war. Meist hat er versucht, die Kulissen einer Welt, die gerade dabei war, aus den Fugen zu geraten, wieder gerade zu rücken.“
„Ich weiß, wovon du redest.“
Erstaunt sieht Pacho mich an, geht aber nicht weiter auf meine Bemerkung ein.
„Diese Spaziergänge waren bald wie ein Ritual, um den Albträumen, deren ungewollter Zuhörer ich geworden war, entkommen zu können. Sie hatten etwas Versöhnliches, auch wenn die Kulissen des Alltags direkt nach unserer Rückkehr an ihren gewohnten Ort zurückgeschoben wurden. Für kurze Zeit konnte ich so etwas wie Frieden in mir spüren, konnte aufatmen.“
„Ähnliche Gänge habe ich auch gemacht. Wobei ich eines Tages nicht mehr auf das gehört habe, was mein Vater mir zu sagen hatte. Wir waren gemeinsam unterwegs. Allein das zählte. Worte, die fielen, waren, das hatte ich bald schon begriffen, nichts als der vergebliche Versuch, die Welt in ein schöneres Licht zu stellen.“
Wir sehen beide hinab auf die ungeordnete Ansammlung von Häusern des Ortes, der vor kurzem Schauplatz eines Verbrechens geworden ist. Von hier oben deutet nichts auf die schrecklichen Ereignisse der letzten Tage hin.
Vielleicht muss man sich doch nur weit genug auf Abstand bringen, um das Schaurige hinter sich zu lassen, sage ich mir. Doch als ich zu zittern beginne, spüre ich sehr deutlich, welch einem Trugschluss ich aufgesessen bin.
„Die Wirklichkeit kennt kein Entrinnen.“
Diese Worte entweichen mir wie ein kaum hörbaren Windhauch.
Pacho muss mich gehört haben.
„Sisyphos würde mit uns lachen.“
„Ich verstehe nicht ganz“, entgegne ich.
„Nun ja, warum machen wir uns immer noch die Mühe den Stein des Unabänderlichen zu bewegen. Wir sollten ihn liegen lassen. Ein Kuhhaufen wird auch nicht wohlriechender, wenn man ihn unablässig hin und her wendet.“
Pacho holt tief Luft und ergänzt dann:
„Sich in das Leben eines anderen Menschen hineinzudrängen, auch mit den besten Absichten, beraubt ihn seiner Würde. Das Leben jedes Einzelnen ist zu einzigartig, als das man ihm diese Würde nehmen könnte. Auch die Würde zu fehlen.“
Auch ohne den Zusammenhang des zuletzt Gesagten wirklich verstanden zu haben, nicke ich. Ich möchte nichts mehr sagen, nichts mehr hören, keine Gedanken mehr bewegen, nur noch meine Ruhe.