Ches Mütze XXII

cropped-ches-mucc88tze-ii.jpg

Der Glatzkopf und der Milde erwarten uns bereits, als wir zum Haus Álvaros zurückkehren. Ich ahne nichts Gutes und verlangsame den Schritt. Pacho bleibt stehen und sieht mich fragend an.
„Du hast recht. Es ist zwecklos, sich dem Unabänderlichen zu widersetzen.“
Pacho nickt.
Beim Betreten der Veranda reicht mir der Glatzkopf mit einem finsteren Blick ein Glasröhrchen. Ich habe die Worte des Botschaftsbeamten noch deutlich im Ort und beschließe, der Aufforderung des Glatzkopfs nachzukommen. Ich öffne das Glasrohr und entnehme einen übergroßen Wattestab. In zahlreichen Kriminalfilmen habe ich gesehen, wie man mit ihm umzugehen hat. Beim Einführen des rauen Holzstabes muss ich spontan würgen. Ich beruhige mich und mache einen Abstrich erst auf der einen Wangenseite, dann auf der andere. Nachdem ich den Stab zurück in das Rohr geführt und mit dem signalroten Schraubverschluss verschlossen habe, entreißt der Glatzköpfe mir das Rohr, noch bevor ich es ihm habe geben können. Er winkt dem Milden zu, der nun seinerseits aus dem Sessel aufspringt. Von ihrer kurzen Anwesenheit bleibt nichts als eine kleine von den Reifen ihre Streife aufgewirbelte Staubwolke zurück. Mit einem flauen Gefühl im Magen blicke ich ihnen nach.
„Sie werden mit ihrer Rückkehr nicht lange warten lassen“, sage ich, als ich mich Pacho zuwende.
„Vor morgen Abend ist nicht damit zu rechnen. Die DNA-Probe muss in die Hauptstadt. Mit der Klapperkiste der Beiden wird es nicht so schnell gehen. Wir können nur hoffen, dass sie unterwegs eine Panne ereilt, oder sie anderweitig aufgehalten werden. Die Straßen sind zudem nicht in bestem Zustand, vor allem nach den heftigen Regengüssen der letzten Wochen. An einige Stellen, das weiß ich von meiner Fahrt hierher, sind Teile der Böschung heruntergekommen. Also lass uns ganz in Ruhe die Zeit, die uns bleibt ausnutzen. Ich denke, wir haben noch einiges auszutauschen. Na, wie sieht es mit einem Kaffee aus?!“
„Gerne!“
Während Pacho den Kaffee bereitet, lasse ich mich für einen Moment in Álvaros Schaukelstuhl fallen und schließe die Augen.
Mir geht mein Gedankensturm von eben noch nach. Seltsam, wie erfolgreich Verdrängtes es schafft, sich beharrlich stets auf Neue ins Bewusstsein zu katapultieren. Nimmt das nie ein Ende, frage ich mich.
Was mein Vater bei unserem Spaziergang damals wieder geradezurücken versucht hatte, ist für mich heute nicht bedeutungsvoller es je war. Warum also die Erinnerung an damals? Ein Streit zwischen meinen Eltern war unserem Spaziergang vorangegangen. Worum es ging, habe ich nicht mitbekommen. Allein die Worte „Er ist nicht dein Sohn!“, voller Hass meinem Vater entgegengeschleudert, waren es, dich mich zunächst aufhorchen und später weglaufen ließen. Im Grunde war es mir egal, was meine Mutter meinem Vater zu Recht oder unrecht vorhielt. Schon längst hatte ich begriffen, dass für eine Vaterschaft die Genetik keine wirklich bedeutsame Rolle spielte. Trotz seines etwas herben Charakters war mein Vater die wichtige Bezugsperson meiner Kindheit und Jugend gewesen. Er war immer da, wenn ich ihn brauchte. Natürlich auch dann, wenn er mir mit seiner oft penetranten Art, den Dingen eine für ihn als richtig erachtete Wendung zu geben, gehörig auf den Wecker ging. Nie wirklich habe ich darüber nachgedacht, ob ich mir lieber einen anderen Vater hätte wünschen sollen. Die Erkenntnis, dass es da noch einen Anderen geben sollte, ließ mich darum kalt. Sehr zum Erstaunen meiner Mutter, die vermutlich gehofft hatte, einen bleibenden Keil zwischen mich und meinen Vater treiben zu können.

„Du siehst nachdenklich aus“, spricht Pacho mich an, als er mit einer Kanne Kaffee und zwei Bechern wiederkommt.
„In gewisser Weise bin ich das auch. Das Gespräch vorhin über deinen Vater hat alte Erinnerungen wachgerüttelt. Stell dir vor meine Mutter hat irgendwann einmal behauptet, mein Vater sei gar nicht mein Vater.“
„Ach ja.“
Eine Weile warte ich auf eine weitere Reaktion von Pacho. Sie bleibt jedoch aus.
„Ist das alles, was du zu entgegnen hast?“
Pacho hebt entschuldigend die Augenbrauen und versucht ein Lächeln.
„Entschuldige, du hast mit deiner Äußerung bei mir genau ins Schwarze getroffen.“
Pacho beginnt zu husten, so als habe er sich verschluckt und schnappe nun nach Luft. Dabei hat er seinen Kaffee noch gar nicht angerührt.
„Damals hielt sich einige Zeit im Dorf das Gerücht, ich sei von jemand anderem.“
Fassungslos schüttle ich den Kopf.
„An jenem Tag, von dem ich vorhin kurz erzählte, erfuhr ich ungewollt davon, bin der Behauptung aber nie wirklich nachgegangen. Später einmal hat meine Mutter einen weiteren Anlauf genommen und mir in einem jener Momente, in denen ihre Eifersucht auf meinen Vater und unser Verhältnis sie einfach nur noch Unsinn reden ließ, entgegengehalten, ‚Dein Vater könnte der spanische König sein. Auch das wäre dir egal.‘ Dies waren die Augenblicke, in denen ich nur noch das Weite suchte und so tat ich dies, ohne weiter auf ihre Anspielung einzugehen.“
Immer noch verwundert hake ich nach.
„Aber wie kam man auf dieses Gerücht? Und warum hat deine Mutter es aufgegriffen?“
„Wie ich schon sagte, pure Eifersucht hat meine Mutter angetrieben. Was das Gerücht anbelangt, kann ich nur so viel sagen, aber du weißt, was sich die Leute nach einem Gläschen gerne mal zusammendichten.“
Pacho unterbricht sich selbst und fährt dann fort.
„Im Grunde ist es haltlos.“
„Nun sag schon! Mach es nicht so spannend! Wer soll dein Vater sein? Doch nicht wirklich der spanische König.“
„Che!“
„Wie bitte?!“
„Ja du hast richtig gehört. Che verbrachte einige Tage in unserem Dorf, bevor er erneut fliehen musste. Wie es heißt, soll er ein durchaus charmanter Mann gewesen sein. Eine besondere Ausstrahlung ging von ihm aus. Und so sollen sich meine Mutter und er an einem dieser Abende bei einem kleinen Tänzchen nahe gekommen sein. Die weiteren Details, die erzählt wurden, will ich nicht weiter ausführen. Schau genau hin! Vor dir ist Che junior.“
„Du willst mich auf den Arm nehmen?!“
„Nicht wirklich. Für mich ist das ja auch nur Unfug.“
„Obwohl…“
Hier breche ich ab, denn das, was ich denke ist zu schauerlich.
„Was ist?“
Ich sammle mich und versuche die passende Worte zu finden.
„Deinem Vater wurden doch die Hände abgehauen. Vielleicht ist das eine Anspielung auf die Ermordung Ches, dem gleiches widerfuhr.“
„Du meinst, jemand wollte ein Zeichen setzen?!“
„Oder nur eine falsche Fährte. Auf jeden Fall würde dies für meine Unschuld sprechen. Denn mit euren alten Geschichten habe ich nun wirklich nichts zu tun.“
„Nun mal langsam! So wirklich gibt das keinen Sinn. Warum sollte jemand meinen Vater ermorden und ihm mit seiner Hinrichtung nochmals unterjubeln, dass er nicht mein Vater ist?“
„Du hast recht.“
„In was für eine Kriminalgeschichte sind wir da nur hineingeraten?“
„Ja, und ich dachte, ich könnte hier einige erholsame Tage verbringen.“
„Für den Part des Erholsamen stehe ich dir gerne zur Verfügung. Was hälst du von einem kleinen Ausflug Morgen? Wir werden nicht lange unterwegs sein, so dass unser Hauptverdächtiger rechtzeitig zurück ist, wenn der Glatzkopf mit seinem Adjutanten wieder auftauchen.“
„Gerne. Aber das mit dem Hauptverdächtigen ist nun wirklich nicht witzig. Was, wenn sich diese Behauptung hält und durch passende Indizien noch untermauert wird. Das meine DNA mit den gewonnenen Spuren auf der Kleidung deines Vaters deckt, ist ja keine Geheimnis. Ebensowenig wie ich eine der letzten Personen war, die mit ihm zusammen waren. Also, bitte lass das Spaßen darüber!“
„Enschuldige bitte! Es ist wirklich unpassend.“