Ches Mütze XXIV

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„Clemens, was ist mit dir?!“
Als ich die Augen öffne, schaut mich ein besorgter Pacho an.
„Ich bin wohl kurzzeitig untergetaucht. Hat nicht ganz funktioniert. Nun bin ich ja wieder da. Der Versuch sich aufzulösen und so seinen Häschern zu entgehen, ist wohl fehlgeschlagen.“
Ich muss über meine eigenen Worte schmunzeln. Pacho kann mir nicht ganz folgen, reich mit die Hand und hilft mir auf.
„Du hast uns einen gehörigen Schrecken eingejagt.“
Vertrauensvoll kneift er mich in den Arm.
„Uns beiden geht die Geschichte mit unseren Scheinvätern wohl mehr nach, als wir wahrhaben wollen.“
„Scheinväter?!“
Acacia stemmt beide Hände in die Hüfte.
„Nun los Jungs! Ich mache uns noch einen Schwarzen und dann will Fakten, haltbare Fakten, nichts als die Wahrheit. Und seit gewiss, alles was ihr nicht sagt, kann gegen euch verwendet werden.“
„Mit Acacia ist nicht zu spaßen. Also was sagen wir ihr“, will Pacho nicht ohne ironischen Unterton wissen.
„Nichts als die Wahrheit“, entgegne ich mit einem Augenzwinkern.

„Ich fass es nicht. Das kann doch kein Zufall sein. Kurios, wie das Leben spielt.“
„Nun ja, ich wäre froh, wenn andere dies auch nur als Spiel ansehen könnten. Nichts gegen so interessante und unverhoffte Bekanntschaften, wie die Ihre, aber eigentlich war meine Mission hier doch eine andere.“
„Oh, oh, mein Herr. Höre ich da etwas von einer Mission? Das sollten sie besser nicht so laut sagen.“
Verschwörungsvoll schaut sich Acacia um.
„Wir sollten aufbrechen, sonst wird aus meinen Plänen nichts“, wirft Pacho ein.
Acacia schüttelt den Kopf. Ich verspüre den dringenden Drang, die Toilette aufzusuchen und will die Gelegenheit nutzen, um mich weiteren Bemerkungen von ihr zu entziehen.
„Lass euch nicht stören. Ihr entschuldigt mich bitte. Ich muss noch einen stillen Ort aufsuchen, bevor ich wieder transportfähig bin.“
Als ich das Café betrete und sich meine Augen an das dunkle Licht gewöhnt haben, sehe ich einen älteren Herrn hinter der Theke stehen, der mir freundlich zulächelt.
„Entschuldigen Sie bitte! Können Sie mir sagen, wo ich die Toilette finde?
„Dort hinten in der Ecke“, antwortet er und zeigt auf eine fast völlig mit Getränkekästen zugestellte Tür, auf der deutlich Baño zu lesen ist.
Als ich weitergehen will, fällt mein Blick auf einen Bilderrahmen. Ungläubig sehe ich genauer hin. Hinter der Glasscheibe ist ganz ohne Zweifel eine Mütze eingerahmt. Eine Mütze, wie sie einst der Comandante getragen hat.

„Warum runzelst du die Stirn?“, will Pacho von mir wissen.
„Hast du schon einmal das Bild hinter Theke im Café gesehen?“
„Ach, Ches Mütze!“
„Ches Mütze?!“
Ich schüttle den Kopf.
„Na ja, Alejandro der Besitzer, behauptet bis heute, Che hätte ihm seine Mütze auf der Durchreise vermacht. Schon damals gab es hier einen vorzüglichen Kaffee und es soll eine Art Wechselgeschäft gewesen sein. Mütze gegen Kaffee, du verstehst.“
„Glaubst du wirklich, dass …?“
„Wenn ich ehrlich bin, ist es doch sehr unwahrscheinlich. Würdest du, jemandem einfach deine Kappe überlassen?“
„Kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem wer will meinen verschwitzten Lappen schon haben. Bei unserem Comandante könnte der Sachverhalt jdeoch etwas anderes liegen. Kleidungsstücke, Haarlocken und Ähnliches von Prominenten sind doch hoch im Kurs.“
„Mag sein. Auf jeden Fall konnte bis heute keiner Alejandros Behauptung wiederlegen. Und so kommen viele Touristen hierher, um Ches Mütze in Augenschein zu nehmen und so ganz nebenbei in den Genuss eines guten Kaffees.“
„Sehr clever auf jeden Fall.“
Wir verabschieden uns von Acacia mit einer Umarmung, nicht ohne versprochen zu haben, auf der Rückfahrt noch einen Schwarzen zu nehmen.

Nach einer weiteren knappen Autostunde erreichen wir über eine von der Ruta 38 abgehende Passstraße unser Ziel. Dieses Mal ist auf dem zwischen zwei Holzfählen angenagelten Schild in roter Schrift zwischen zwei roten Sterne zu lesen La Higuera, mit einem dicken rotem Punkt auf dem I.
Der Ort, der zwar in vielen Geschichtsbüchern durchaus als historisch betrachtet wird, wirkt auf einen Reisenden wie mich immer noch so verschlafen, wie er es vor Jahrzehnten schon war. Die Bevölkerungszahl ist rückläufig. Kaum noch hundert Einheimische zählt das Dorf, auch wenn diese nicht müde werden zu betonen, wie gerne sie hier leben. Und besten Fortbewegungsmittel scheinen immer noch Pferd und Esel zu sein. Autos sind kaum auszumachen. Schon auf der Fahrt sind uns einige Reiter begegnet.
Wir stellen den Wagen am Ortseingang ab und machen uns zu Fuß auf den Weg.
„Dieser Ort ist einer der Hauptgründe meiner Reise. Ich freue mich, dass du heute mit mir hierher gefahren bist. Bisher habe ich mir von diesem Ort nur aus Reiseberichten und Biographien von Che ein vages Bild machen können. Es ist noch abgelegener, als ich es mir vorgestellt habe. Auf den letzten Kilometern sah es nicht mehr so aus, als ob wir überhaupt noch einmal eine menschliche Behausung antreffen würden.“
„Ich habe mir gedacht, dass du hierher fahren wolltest. Und in Begleitung eines Reiseführers ist es sicher noch besser.“
„Ohne Zweifel.“
„Ich war selbst lange nicht mehr hier. In meiner Jugend war mein Vater oft mit mir hier. Es war fast ein Sonntagsausflug für ihn. Wenn ich ehrlich bin, habe ich lange nicht verstanden, was er so interessant an diesem Ort fand. Später, nachdem ich Wind von den Gerüchten erhalten habe, hat mich der Ort nicht mehr interessiert. Mir wird gerade bewusst, im Grunde war ich seitdem nie wieder hier. Hier scheint sich nichts verändert zu haben. Weißt du übrigens, wo der Ort seinen her hat?“
„Wenn ich mich richtig erinnere, geht er auf die zahlreichen Feigenbäume der Umgebung zurück.“
„Du bist gut vorbereitet. Willkommen in Der Feigenbaum.“

An verschiedenen Stellen sind übergroße Büsten von Che aufgestellt. Unter einer ist zu lesen: Dein Beispiel erleuchtet einen neuen Tagesanbruch.
„Einige haben damals große Hoffnungen in ihn gesetzt“, sage ich mehr zu mir selbst.
„Vielleicht zu große“, erwidert Pacho. „Man sagt, seine Gefolgsleute waren zuletzt getrennt, die Gruppe um ihn selbst nicht viel mehr als zwei Hände voll.“
„Wenngleich ich nie einig mit seinen Mittel war, irgendwie bewundert habe ich diese Che schon. Selbst als die Lage für ihn und seine Männer immer auswegloser wurde, hat er nicht gekniffen.“
Pacho schaut nachdenklich vor sich hin.
„Weißt du wie oft ich zu Hause von meinem Vater zu hören bekommen habe ‚Du bist ein Feigling. Sei doch nur ein einziges Mal ein richtiger Mann und stehe ein für deine Ideale und kneif nicht bei jeder Schwierigkeit gleich den Schwanz wieder ein!‘ ?“
Ich kann es mir denken.
„Oft, so wie ich deinen Vater kennengelernt habe.“
„Erst vor einigen Jahren habe ich begriffen, dass seine Härte mir gegenüber noch einen ganz anderen Hintergrund hatte.“
„Welchen?“
„Er hat sich selbst nie verziehen, dass er zu feige war und um so unnachgiebiger das beäugt, was ich zustande brachte oder, wo ich in seinen Augen versagt habe.“
„Deine Worte sind fast frei von Groll gegenüber deinem Vater. Bemerkenwert.“
„Er ist mein Vater, auch wenn andere etwas anderes behaupten mögen. Und das wird immer so bleiben. Man kann sich die eigenen Eltern nicht aussuchen. Aber man hat die Verpflichtung, aus ihren Fehlern zu lernen und es anders, vielleicht sogar besser zu machen.“
Wir gehen schweigend weiter.
Überall im Dorf sind Spuren des Gedenkens an diesen so widersprüchlich betrachteten Menschen zu finden. Wandaufschriften wie „Menschen werden sterben können. Aber nie ihre Ideen.“ wecken unsere Aufmerksamkeit.
Ich spüre eine Faszination für etwas in mir, von der ich nicht so recht sagen kann, worin sie besteht. Keine Art von Personenkult, wie ich früher dachte und dem ich selbst, so muss ich zugeben, eine Zeit verfallen war. Es ist etwas anderes, das mich berührt, vielleicht sogar anrührt. Ich merke, wie meine Augen feucht werden. Was ist nur los mit mir?
Pacho ist scheinbar vorbereitet auf das, was Besucher dieses Ortes erwartet. Kein touristischer Rundgang durch historische Stätten. Der Ort hat etwas Magisches: Inmitten einer fast unwirklichen und einsamen Umgebung zeigt sich die Nacktheit des Lebens in all ihrer entblößenden Wirklichkeit und Macht.
Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst.“
Dieser Satz entfährt meinem Innern, wird hörbar, ohne das mein Geist willentlich ausgesprochen hätte.
„Was lässt dich den Psalmisten zitieren?“
Ich zucke die Schultern.
„Du kennst ihn?“
„Aber sicher. Auch als nicht gläubiger Katholik ist mir dieser Satz vertraut. Ich habe ihn oft in der Schule gehört. Er ist mir im Gedächtnis geblieben. Wie kommst du gerade auf ihn?“
„Ich bin irgendwie ergriffen von diesem Ort. Ich kann nicht recht sagen warum. Dieser Ort hat in seiner Schlichtheit etwas Ergreifendes. Vielleicht ist es diese Schlichtheit, die mich auf das Elementare im Leben zurückwirft. Wer bin ich? Warum gibt es mich? Was ist meine Bestimmung?“
Ich hole tief Luft. Meine Beine werden weich und lasse mich mitten auf der staubigen Dorfstraße nieder. Pacho setzt sich neben mich und nimmt mich fest in seine Arme. Ich beginne zu weinen. Mir ist, als würde sich ein reißender Bergbach durch meine kleinen Augenhöhlen hindurchzwängen. Mein Schluchzen lockt einige Kinder an, die uns bald umringt haben. Durch meine verwässerten Blick kann ich sie kaum erkennen. Ich wische mir die Tränen ab und schaue in Augen, wie ich sie nie zuvor gesehen haben. Ein Leuchten und Funkeln, eine Klarheit und Reinheit, die mich so ergreift, dass ich erneut zu weinen beginne.

Wie lang wir auf der Straße gesessen haben, kann ich nicht sagen. Die Kinder sind längst wieder verschwunden. Ich würde ihnen gerne, noch einmal in die Augen schauen können.