Es hat zu regnen begonnen. Auf dem lehmigen Untergrund der Schotterstraße bilden sich schnell kleine Rinnsale. Wir suchen Schutz in einer nahegelegenen Tienda. Um einen kleinen Tisch sitzen drei ältere Herren. Sie müssen schon länger dort sitzen. Vor ihnen haben sich eine stattliche Anzahl von Bierflaschen angesammelt.
„Pachito! Was für eine Freude, dich zu sehen. Es ist sehr lange her, dass du dich zu uns verirrt hast. Mein Beileid zum Tod deines Vaters.“
Selbst bis hierhin hat sich die Nachricht bereits herumgesprochen. Nacheinander stehen die drei Herren auf und kondolieren Pacho.
„Darf ich vorstellen, drei alte Weggefährten meines Vaters: Aureliano, José und Arcadio. Ich bin heute, wie ihr seht, nicht alleine gekommen. Clemens ist meiner Einladung, mich an diesen historischen Ort zu begleiten, spontan gefolgt.“
Die drei betrachten mich neugierig. Arcadios Blick hat dabei etwas Feindseliges. Ich trete einen Schritt zurück.
„Clemens, keine Angst die Herren sind völlig harmlos und Arcadios Blick ist bis in die Hauptstadt legendär. Es heißt, er hätte in seinen besseren Jahren mit diesem so manche Frau willenlos gemacht und in sein Haus locken können. Bis heute ist er aber der einzige Junggeselle des Ortes geblieben. Stimmst, mein Alter?“
Arcadio winkt ab.
„Gerüchte, nichts als Gerüchte. Ich war immer glücklich verheiratet mit meiner Carmencita. Möge sie ewige Ruhe gefunden haben. Gott hab sie selig.“
„So, so, mein Lieber, und warum hat sie bis heute niemand zu sehen bekommen“, will Aureliano wissen.
„Beim Allmächtigen, schämst du dich nicht?! Ich sehe sie noch deutlich vor mir, was für eine prächtige Erscheinung sie doch war, wie aus einer anderen Welt.“
Aureliano hebt seine Flasche und prostet José zu.
„Aus einer anderen Welt, hört, hört!“
„Macht euch nur lustig, ihr Narren. Aus euren Worten spricht nichts als Neid. Meint ihr, ich hätte eure lüsternen Blicke vergessen. Ihre tanzenden Hüften haben auch euch stets um den Verstand gebracht.“
Ich schaue Pacho völlig irritiert an und flüstere ihm zu.
„Kannst du mir erklären, was hier gerade abläuft?“
„Du kannst das Gesagte nicht ganz für voll nehmen. Die Drei sitzen fast jeden Tag hier. Kaum einer wird noch ergründen können, was wahr und was erfunden an dem ist, was sie von sich geben. Wann und ob je einer von ihnen noch richtig nüchtern wird, bleibt ebenso ein Geheinmis.“
Aureliano beobachtet uns argwöhnisch und fordert uns auf, Platz zu nehmen.
„Estrella, zwei Bier für die Herren.“
Widerspruch zwecklos, denke ich und nehme Platz.
„Clemens, ich darf dich doch so nennen?!“
Ich nicke Arcadio zu. Sein Blick ist versöhnlicher geworden.
„Wir haben gehört, dass du verdächtigt wirst…“
Ich kann nicht anders als Arcadio in Wort zu fallen.
„Stopp, was soll das?! Wovon redet du? Ich bin unschuldig.“
„Nur ruhig, Junge. Keiner von uns glaubt wirklich daran. Du hast damit nichts zu tun, könntest wie Pacho unser Sohn sein. Also reg dich nicht weiter auf. Für die Gerüchte können wir nichts. Jemand hat wohl Gefallen daran, deine Person mit unseren alten Geschichten zu verstricken?“
„Alte Geschichte? Ich verstehe nicht, wovon du sprichst.“
Arcadio sieht Aureliano und José vielsagend an, was sie spontan nicken lässt.
„Du hast recht, er ist unschuldig.“
José versucht mit seinen Worten, überzeugend zu klingen. In ihnen schwingt jedoch noch etwas anderes mit, von dem ich nicht recht sagen kann, ob es der Wirkung des Alkohols geschuldet ist, oder mehr zu bedeuten hat.
„Arcadio, es wäre hilfreich, wenn ihr drei den armen Clemens nicht länger auf die Folter spannt. Ihr seht doch, wie sehr die Beschuldigungen ihm zugesetzt haben. Aber haltet euch kurz. Wir haben nicht all zu viel Zeit. Die Häscher der Justiz erwarten uns noch heute zurück. Das heißt, wir müssen noch vor der Dunkelheit zurück sein.“
„Schade.“
Josés krächzende Stimme lässt mich aufhorchen.
„Ich hätte da noch einen alten Hahn bei mir im Hof. Wenn ich gleich losziehe, könnte ich ihn für uns zubereiten. Mit der Spezialmarinade versteht sich, einem geheimen Rezept meiner Großmutter, Gott hab sie selig.“
„Lass gut sein, José! Die Herren haben keine Zeit und wollen eher Fakten von uns hören, als an den Knochen deines abgehalfterten Hahns zu lutschen. Der kann sich kaum noch auf den Beinen halten und bei jedem Versuch zu Krähen, bringt er kaum mehr als ein Fiepen zustande.“
„Das ist eine infame Lüge.“
Arcadio legt seinen Arm um José.
„José, sei nicht beleidigt, wenn wir Comandante heute nicht verspeisen wollen.“
„Comandante?“, frage ich.
„Comandante“, bestätigt Arcadio.
„Ein trefflicher Name, für den stolzesten Hahn, den La Higuera seit Menschengedenken je gesehen hat, auch wenn er die besten Tage längst hinter sich hat.“
José zeigt sich besänftigt. Arcadio zwinkert uns zu.
„Was sind das für Fakten, von denen du sprichst, Arcadio?“
„Es ist kein Geheimnis, dass die Mehrzahl der Bevölkerung Comandante Che damals nicht mit offenen Armen empfangen hat. Viele von uns wie wir waren sehr skeptisch. Keiner konnte wirklich glauben, dass das, was er vorhatte, von dem keiner so recht sagen konnte, worin es bestand, erfolgreich sein würde. Immerhin soviel war damals klar. Der Comandante suchte Gefolgsleute. Kaum einer war jedoch bereit, ihm zu folgen und so blieb seine Gefolgschaft eher dürftig. Schon von daher war das, was er plante, von dem, ich möchte es nochmals betonen, keiner sagen konnte, was es war, zum Scheitern verurteilt. Wir haben mit Álvaro so manche hitzige Diskussion über das Für und Wider geführt. Er war, so schien es zumindest, ein brennender Anhänger des Comandante. Wir sind davon ausgegangen, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis Álvaro sich ihm angeschlossen hätte.“
„Wir haben nur nie verstanden“, schaltet sich Aureliano ein, „warum er es dann doch nicht tat. Später haben wir ihn gerne damit aufgezogen, dass er von seiner Frau keine Erlaubnis dazu erhalten habe und wie so manch anderer zeitweise am Bett festgebunden worden war. Unsere Vermutung versuchten wir mit dem Umstand zu untermauern, dass er um die besagte Zeit gut eine Woche nicht auf der Straße gesehen wurde. Ein eindeutiges Indiz in jenen Tagen dafür, dass auch seine Frau, um schlimmeren Schaden von ihrer Familie abzuwenden, zur Tat geschritten war.“
Mir ist das Bier längst zu Kopf gestiegen und die Ausführungen der Alten tragen das ihre dazu bei, dass ich Kopfschmerzen bekomme.
„Könnt ihr bitte bei den für mich verwertbaren Fakten bleiben und auf Ausschmückungen verzichten. Ich kann euren Worten sonst nicht folgen.“
„Verzeih, Aureliano neigt dazu, sich in Nebensächlichkeiten zu verlieren. Er wäre der geborene Schriftsteller.“
Aureliano wagt nicht, zu widersprechen, und schweigt.
„Wenn ich auch etwas sagen darf.“
Nun hebt José an, das Seine zum Besten zu geben, aber Arcadio lässt ihn nicht zu Wort kommen.
„Wir alle können nicht genau sagen, was Álvaro letztlich zurückgehalten hat. Eines scheint jedoch sicher zu sein. Er war rund um die Ereignisse der Gefangennahme und Ermordung des Comandante verwickelt.“
„So heißt es.“
José scheint nicht bereit, länger am Reden gehindert zu werden.
„Man wirft ihm vor, er habe das Versteck des Comandante den Regierungstruppen verraten.“
Wieder geht Aureliano dazwischen.
„Ich muss auf eines hinweisen. So uneins viele von uns damit waren, ob die Ziele des Comandante wirklich umzusetzen wären, alle ließen ihn gewähren. Kaum einer konnte ihm folgen, aber keiner wollte sich wirklich gegen ihn stellen. Warum sollte man sich sonst seiner an diesem bis heute noch trostlosen Ort erinnern. Er war wie ein ersehnter Messias, von dem man inständig hofft, er werde auch ohne das eigene Dazutun, die Welt verändern. Ist es heute so viel anders? Kaum einer will sich selber die Finger schmutzig machen. Aber insgeheim bejubeln wir doch all jene, die klar und unmissverständlich Unrecht und Ungerechtigkeit beim Namen nennen.“
Innerlich schüttle ich den Kopf. Die drei Alten machen es mir wirklich nicht leicht, in meinem angeschlagenen Gemütszustand den roten Faden zu behalten.
„Darf ich nochmals darum bitten, bei den Fakten zu bleiben und von weiteren Ergänzungen abzusehen. Wenn es mir möglich ist, komme ich gerne wieder und will euch dann gerne uneingeschränkt lauschen. Für heute bin ich dazu nicht in der Lage und wie gesagt, unsere Zeit ist beschränkt.“
Aureliano, Arcadio und José schauen sich verständig an, nicken und prosten sich mit ihren bereits geleerten Flaschen zu. Arcadio hebt die Hand und schon ist Estrella auf dem Weg und bringt die nächste Runde. Pacho und ich winken ab.
„Wenn es erlaubt ist“, beginnt Aureliano von Neuem, „dann werde ich die Fakten nochmals zusammenfassen und gegebenenfalls ergänzen.“
Keiner erhebt Widerspruch.
„Fest steht, dass unser geschätzter Álvaro zwar willens war, dem Comandante zu folgen, es dann aber aus nicht bekannten Gründen unterlassen hat. Eine Schwäche, wenn ich dies anmerken darf, die uns allen gemein war und ihm von daher nicht angelastet werden darf. Mehr ist im Grunde nicht zu sagen.“
„Das ist nicht viel. Und dies als Fakten zu bezeichnen ist stark übertrieben.“
Ich bin enttäuscht, hatte ich doch mehr erwartet.
„Warum ist Álvaro dann ermordet worden?“
„Dies ist wohl im Zusammenhang jener alten Gerüchte zu sehen, die wie eben von José angemerkt, zum Inhalt haben, Álvaro habe etwas mit der Verhaftung zu tun. Wen jemand überhaupt den Comandante verraten hat, Álvaro war es sicher nicht. Wir wissen doch alle, dass er um den 8. Oktober wegen eines Magenleidens in einem Hospital in der Hauptstadt war. Von daher kann er bei besten Willen mit allem nichts zu tun haben und konnte nun wirklich nicht gesehen werden. Oder glaubt ihr an Erscheinungen.“
Ich kann wieder nicht glauben, was ich höre. Mir ist, als wollten sich drei Alten auf meine Kosten wieder mal so richtig amüsieren. Ich versuche, die Fassung zu bewahren.
„Und warum hält sich bis heute das gegenteilige Gerücht?“
„Weil es manchmal einfacher ist, einem Gerücht zu folgen, als sich der Wahrheit zu stellen. Für den Tod des Comandante gibt es eine einfache und allen bekannte Erklärung. Er ist am 8. Oktober mit einigen anderen nach einem kurzen Gefecht festgenommen und schon am nächsten Tag in den frühen Morgenstunden hier in La Higuera hingerichtet worden. Sein Leichnam wurde eingewickelt und befestigt an den Kufen eines Hubschraubers nach Vallegrande gebracht. Man trennte ihm die beiden Hände ab und ließ den Leichnam verschwinden. All dies beantwortet aber nicht die Frage nach der Entstehung des Gerüchts. Die Frage ist, wenn ich dies in aller Bescheidenheit anmerken darf.“
Aureliano hält kurz inne, so als wolle er seinen Worten die gewünschte Wirkung verleihen.
„Die Frage ist damals wie heute: Wer hat etwas von diesem Gerücht? Also, wem nützte es damals und was hatte der- oder diejenige noch heute davon, es in die Welt gesetzt zu haben? Gleichzeitig bleibt noch eines zu bedenken. Warum hält sich so lange ein Gerücht, von dem doch jeder weiß, das es haltlos ist? Und, wie kann es sein, gerade ein Unschuldiger in den Bann dieses Gerüchts kommt.“
Spontan stehe ich auf und verlasse wortlos die Tienda. Im Herausgehen höre ich José sagen:
„Wir gehen davon aus, dass diese Person, die damals das Gerücht in die Welt setzte, heute noch lebt…“
Der Schluss seines Satzes bleibt hinter der zufallenden Tür zurück. Ich bin Zeuge einer Provinzposse geworden, sage ich mir. Es ist wirklich unfassbar, wie so manches in den letzten Tagen. Meine Reise scheint mehr und mehr zu einem einzigen Alptraum zu werden.