Ches Mütze XXVI

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Eine Weile schreite ich ziellos voran, bis eine Stimme mich aus meiner inneren Versunkenheit herausreißt.
„Junge, vor wem bist du denn auf der Flucht?“
Ich bleibe stehen und sehe dicht vor mir in das von der Hochlandsonne gegerbte Gesicht einer alten Frau.
„Komm! Darf ihr dir etwas anbieten?“
Willenlos folge ich ihrer Einladung. Ich betrete ihre Lehmhütte und nehme an einem kleinen Tisch Platz. Er ist gegen die Wand gestellt, von der letzte Reste weißer Farbe abblättern. Mich umgibt ein sonderbarer Geruch, der sich mit dem Duft einer frisch zubereiteten Mahlzeit mischt. Neugierig schaue ich mich um, während die Alte sie über der Kochstelle zu schaffen macht.
„Ein Teller Suppe wird dir gut tun und deine Lebensgeister wecken.“
Was mache ich hier, frage ich mich. Suche ich Unterschlupf? Will ich mich gar verstecken? Als Kind habe ich mir manches Mal gewünscht, einer für mich ausweglosen Situation dadurch entgehen zu können, dass ich durch eine magische Tür in eine andere Welt hineinschreite.
„Hier mein Junge, lass es dir schmecken!“
Ich nicke und lächle zum Dank.
Die Suppe schmeckt so gut, dass ich bald schon den Tellerboden mit meinem Löffel abzukratzen beginne.
„Noch eine Portion?“, höre ich die Alte von der Kochstelle fragen.
Ich nicke abermals.

„Vor wem bist du nun auf der Flucht?“
Die Alte sieht mich mit einem durchdringenden Blick an.
„Haben Sie noch nicht mitbekommen, dass ich wegen Mordes gesucht werde?“, will ich nicht ohne Ironie wissen. Ich gehe davon aus, dass selbst dieser alten Frau nicht entgangen ist, wer ich bin.
„Mein Junge, der Gerüchte gibt es unzählige. Ich gebe nichts auf sie. Also vor wem bist du wirklich auf der Flucht.“
„Vor mir selbst.“
Die Alte nickt verständig.
„Und du glaubst, es wird dir gelingen.“
„Ich fürchte nein. Es ist mir, wenn ich ehrlich bin, noch nie gelungen.“
„Geht mir nicht anders. Man kann vor vielem weglaufen, aber nicht vor sich selbst. Ein Grund warum es mir nie in den Sinn gekommen ist, diesen für viele unwirklichen Ort zu verlassen. Ich hätte mich selbst ja immer mitnehmen müssen. Also wofür der Aufwand.“
Die Alte lacht auf.
„Ich bin übrigens Mariposa.“
Ich runzle die Stirn vor Verwunderung, was der Alten nicht entgeht. Sie scheint, eine aufmerksame Beobachterin zu sein.
„Nun schau nicht so skeptisch! Der Spiegel sagt mir jeden Morgen, dass die besten Jahre längst hinter mir liegen.“
Mit einer flüchtigen Handbewegung fährt sie sich durch ihr graues Haar.
„Aber nun sag schon, was willst du hinter dir lassen, dass du eine so weite Reise auf dich genommen hast, um zu uns ans Ende der Welt zu gelangen?“
Mir fällt spontan keine passende Antwort ein. Zudem sträubt sich etwas in mir. Warum sollte ich mich einer Unbekannten anvertrauen?
„Oder bist du gar auf der Suche? Suchst du den Schatz deines Lebens? Glaube mir, hier ist nicht viel zu holen.“
Nun schüttle ich den Kopf. Was will die Alte von mir. Etwas rät mir, diesen Ort ganz schnell wieder zu verlassen. Die Alte kommt mir zuvor und hält mich am Arm fest.
„Dich wird doch nicht die Gegenwart einer alten Schachtel in Unruhe versetzen?“
Ihre Stimme hat etwas Kokettes. Für einen Wimpernschlag sehe ich eine junge Frau vor mir, deren pechschwarzes Haar im fahlen Lichtschein der von der Decke herabhängenden Glühbirne matt leuchtet. Sie streckt mir ihre Hand entgegen. Ich fahre zurück.
„Nun aber gut. Beruhige dich! Ich bin kein Gespenst, dass du zu fürchten hast. Entschuldige einen Augenblick! Ich will eben etwas holen.“
Die Alte verschwindet hinter einem Vorhang, der einen Teil des Raumes abtrennt. Vermutlich befindet dort ihre Schlafstelle. Als sie wieder hervortritt, hat sie eine kleine Schachtel in den Händen. Sie entnimmt ihr einen Stoß Karten. Nachdem sie sie mit flinken Hände gemischt hat, hält sie ihn verdeckt aufgefächert vor sich hin.
„Darf ich das Orakel für dich sprechen lassen?“
Ich sehe die alte Frau skeptisch an.
„Du bist wohl kein Freund derlei Praktiken?“
„Natürlich nicht“, erkläre ich barsch.
„Warte ab! Du denkst wie viele unserer Zeit, es sei purer Aberglaube, was die Karten zu sagen haben.“
„Was sollen sie schon zu sagen haben. Das ist doch alles nur Einbildung. Man sieht, was man sehen will.“
Die Alte lässt sich nicht beirren.
„Die Karten haben einen Bezug zum wirklichen Leben. Und bedenke! Ich kenne dich nicht und werde für dich eine Karte wahllos ziehen. Aber nur, wenn du dem zustimmen kannst … Und du wirst sehen.“
„Was?!“
„Ich kenne niemanden, der sich dauerhaft der Magie dieser Karten entziehen könnte.“
Neugier erfasst mich. Pure Unterhaltung, rede ich mir ein.
Die Alte zieht eine Karte, legt den Stoß bei Seite, betrachtet die Karte und schaut mich vielsagend an.
„Nun spannen Sie mich nicht auf die Folter.“
Endlose Sekunden verstreichen. Dann endlich fährt sie fort.
„Bis du bereit!“
Wortlos nicke ich.
„Deine Karte ist die Königin der Kelche“,sagt die Alte mit salbungsvoller Stimme.
„Nie gehört“, wende ich ein.
„Die Königin der Kelche verkörpert die weibliche Seite des Wasserelements.“
„So, so, was Sie nicht sagen. Wollen Sie mir an Hand der Karte nahebringen, die weibliche Seite in mir hervorzuholen? Ist es das, was ich insgeheim suche, warum ich mich auf die Reise begeben haben? Um an diesem Ort…“
Die Alte unterbricht mich bestimmt.
„Mir ist egal, was Sie denken. Wenn Sie wollen, dass ich weiterrede, dann müssen sie endlich ihren Mund halten.“
„Gut. Dann fahren Sie fort! Ich werde sie nicht mehr unterbrechen“, verspreche ich.
„Die Königin der Kelche steht für das Feingefühl, Empathie und Opferbereitschaft. Als solche wirkt sie unbewusst auf unsere Seele ein. Sie ist so etwas wie die gute Fee in uns, die Zauberin.“
Ich kann nicht glauben, was ich gerade höre. Ich beherrsche mich jedoch und kann mir das Lachen gerade noch verkneifen.
„Sie ist die Quelle einer Weisheit, die im Verborgenen entspringt und sich jeder Vernunft entzieht. Oft bringt diese Karte zum Ausdruck, dass wir uns in einer Lebensphase innerer Reflexion befinden. Wir lauschen in uns, wollen Klarheit über unseren weiteren Lebensweg finden. Wir entwickeln Freude an okkulten Dingen und Praktiken. Wir haben Zugang zu der unerschöpflichen Aussagekraft von Bildern. Farben und Gerüche beginnen in neuer und unbewohnter Weise auf uns zu wirken. Es ist eine Phase, in der sich unser Inneres in besonderer Weise auch in unser Traumwelt zeigt, verstörend, beängstigend wie klar und gewinnend zugleich. Die Königin der Kelche ist gleichsam eine Quelle der Inspiration. Schließlich deutet sie an, dass wir die dunklen Seiten in uns annehmen müssen, um zur persönlichen Ganzheit zu gelangen. Darum ist es auch eine Phase fast unerträglicher Ambivalenz.“
Das Lachen ist mir vergangen. Die Ausführungen der Alte habe nicht ihre Wirkung verfehlt.
„Ich sehe, der Same der Karte ist dabei, in dir aufzugehen. Ich werde dir einen Kräutertee machen, der die Wirkung noch verstärkt.“