Ches Mütze XXVII

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Als ich einen Schluck der leicht übelriechenden Substanz aus der Tasse schlürfe, bin ich versucht, diese sogleich wieder auszuspucken. Die Alte nickt mir zusprechend zu. Ich folge ihrer Anweisung und schlucke.
Gedanken beginnen in meinem Kopf zu kreisen. Mir wird schwindelig. Ich schnappte nach Luft. Etwas in mir schnürt sich zusammen. Dann werde ich von ein einer Dunkelheit erfasst, schwärzer als jede Nacht. Was hat die Alte mir verabreicht? Es ist das Letzte, was ich klar denken kann.

Unter mir der von der Mittagssonne erhitzte Sand, vor mir die Weite des Ozeans schreite ich ziellos an einer mir unbekannten Küste entlang. Der von der tosenden Brandung aufgeworfene Sprühnebel hüllt mich ein. Die Luft schmeckt salzig.
„Was suchst du?“
Eine wispernde Stimme lässt mich aufhorchen. Ich wende meinen Blick und erkenne nicht weit von mir eine seltsame Gestalt. Ihr trauriger Blick lässt mich innehalten.
„Komm näher! Lass dich von Äußerlichkeiten nicht abschrecken!“
Der Anflug eines Lächelns huscht über ihr Gesicht.
„Wer bist du?“, will ich wissen.
„Sieht man das denn nicht.“
In ihrer Stimme liegt die tiefe Enttäuschung einer Unbeachteten. Nun sehe ich genauer hin.
„Mir scheint, du bist …“
Ich stocke.
„Nur zu, sag, was du siehst!“
„Ich kann nicht glauben, was ich sehe. Du bist ein Wesen aus einer anderen Zeit. Du gleichst einer Königin, sitzend auf ihrem Thron, trägst ein kostbares Gewand und deinen Kopf ziert eine funkelnde Krone. Und doch hat dein Erscheinungsbild etwas Unwirkliches. Es passt nicht an diesen Ort. Du wirkst, als habe man dich samt Thron hier vor langer Zeit vergessen und zurückgelassen.“
„In gewisser Weise ist es so. Ich habe aufgehört die Tage zu zählen. Nur sehr selten verirrt sich jemand hierher. Und wer mich sieht, den verschlägt es sogleich in die Flucht. Die Zeit, ich muss es zugeben, hat ihre Spuren hinterlassen. Betrachte mein kostbares Gewand. Es ist von Wind und Sonne bleich und unansehnlich geworden. Und hier mein Kelch, er ist von dickem Grünspan überzogen.“
Die traurige Königin seufzt auf.
„Die Menschen bringen nicht den Mut auf, mir nahe zu kommen. Du bist seit Urzeiten der Erste. Ich bin zu einem Gespenst dunkler Nächte geworden. Beängstigend und furchterregend zugleich.“
„Du sprichst in Rätseln. Ich kann dir nicht folgen.“
„Den vom Verstand gesteuerten Menschen macht es Angst, sich seinen Emotionen und Gefühlen zu stellen. Die Welt des Verstandes hat beide längst hinter sich gelassen. Mehr oder weniger.“
„Mein Verstand erweist mir gute Dienste. Ich möchte ihn nicht missen.“
„Und doch bist du hier. Was hat dich also hierher geführt?“
„Nichts Bestimmtes. Ich bin einfach so hier gelandet.“
„Gelandet. Du sagst es selbst. Was dein Verstand abfällig als zufällige Begebenheit betrachtet, ist in der Weite des Seins ein Akt der Vorsehung.“
„Nun hör auf! Oder willst du mich auch in die Flucht treiben!“
„Nichts liegt mir ferner als dieses. Wovor hast du solche Angst? Sie ist unbegründet und verzeih, wenn ich dir vielleicht zu nahe trete, ist da nicht eine große Sehnsucht in dir? Mach es dir doch nicht so schwer! Stell dich deiner Sehnsucht! Darum, allein darum bist du doch hier.“
Die traurige Königin hält mir einen Kelch entgegen.
„Nimm ihn. Ich schenke ihn dir.“
Zaghaft greife ich nach ihm. Tiefste Empfindungen erfassen mich. Unbändige Fluten, tosende Wogen stürze über mir zusammen.
Ist dies der Preis, frage ich mich.
Hilfesuchend schaue ich mich um. Der Thron, auf dem ich die traurige Königin vorfand, ist verwaist. Ich mache einen Schritt auf ihn zu und nehme Platz. Immer noch halte ich den Kelch in meinen Händen.
„Gib ihn nicht mehr aus deiner Hand. Er gehört nun dir“, sagt eine Stimme in mir.
Ich drücke ihn fest an mich.

„Du warst weit weg“, höre ich die Alte sagen, als ich wieder zu mir komme.
„Was hast du mir da gegeben?“, will ich wissen.
„Nur das Beste, um dir etwas auf die Sprünge zu helfen. Ich sehe es ist dir gut bekommen. Du strahlst. Hast du gefunden, was du suchtest?“
„Ich bin nicht sicher. Ich fühle mich seltsam … Mir fehlen die Worte.“
„Versuch es nicht. Du kannst das Geschehene zu umschreiben versuchen, aber dein Verstand wird die passenden Worte nicht finden. Du warst an einem anderen Ort, in einer anderen Welt.“
Die Alte fordert mich auf ihr meine Hände zu reichen. Sie ergreift sie und betrachtet ihre Innenseite.
„Sieh hier diese feuerroten Stellen. Du musst mit etwas sehr Verzehrendem in Berührung gekommen sein.“
Ich kann kaum glauben, was ich sehe. Die sichelförmigen Rötungen in meinen Handflächen lassen mich aufschrecken.
„Sie werden dich bleibend daran erinnern, dass es diese andere Welt wirklich gibt.“
Mein skeptischer Blick scheint der Alten nicht entgangen zu sein.
„Auch wenn dich dein Verstand schon bald eines besseren belehren wird, halte daran fest.“
Ich bin geneigt aufzuspringen und das Weite zu suchen. Zu unwirklich ist all das, was ich gerade erlebe. Die Alte hält mich zurück.
„Warte einen Augenblick! Ich will dir noch eines mit auf den Weg geben. Che war in seinen letzten Lebenstagen bei mir. Wir haben uns damals lange unterhalten. Er sprach von all dem, was sich verändern müsste und von der Notwendigkeit, dafür zu kämpfen. Ich stellte ihm damals eine einzige Frage.“
„Welche?“
„Ich habe von ihm wissen wollen, ob er glaube, die Menschen glücklicher zu machen. Verwundert hat er mich angesehen. Zunächst lachte er verächtlich auf. Dann ging er in sich. Nach einer Weile verließ er wortlos mein Haus. Vielleicht hat er begriffen, dass niemand einem anderen Menschen den Kelch des Lebens reichen kann. Jeder muss ihn für sich ergreifen.“
Ich schüttle den Kopf. Weniger darüber, was die Alte gesagt, als was sie mir damit ohne Zweifel zu verstehen gegeben hat.

Als ich das Haus der Alten verlasse, spüre ich eine innere Zerrissenheit. Der Verstand fürchtet um seine Hoheit, denke ich. Deutlich wahrnehmbar sagt etwas in mir: Akzeptiere, lieber Verstand, dass dein Machtbereich geschränkt ist.
Ich breite meine Arme aus und mache einige Drehungen um meine eigene Achse. Dann setze ich tänzelnd mein Weg fort.