Auf dem Rückweg sitzen wir lange schweigend nebeneinander. In Gedanken geht mir die Begegnung mit der alten Frau noch nach. Ihre Worte kreisen in mir. Mein Verstand versucht, sich ihrer zu entledigen, qualifiziert sie als haltloses Geschwätz. Von der Leichtigkeit, die ich beim Verlassen ihres Hauses gespürt habe, ist nichts geblieben.
Der Blick aus dem Fenster zeigt das Lichtspiel einer untergehenden Sonne, die die Landschaft in ein faszinierendes Farbenspiel taucht. Das fahle Grau des Tages ist erdigen Brauntönen gewichen.
„Wie sehr sich die Dinge doch verändern, wenn man sie in einem anderen Licht betrachten kann.“
Ich schrecke aus meinen Gedanken auf.
„Was?“, ist alles, was ich spontan zu erwidern weiß.
„Ich sehe schon. Du bist immer noch ganz in dir versunken. Wo warst du eigentlich? Plötzlich warst du verschwunden und als du wieder aufgetaucht bist, hast du kein Wort gesprochen. Und jetzt sitzt du schon mehr als eine Stunde neben mir und schweigst immer noch wie ein Grab.“
„Entschuldige Pacho. Ich weiß auch nicht so recht, was mit mir los ist. Im einen Augenblick ist mir, als ob gleich meine Sicherung endgültig durchbrennt. Es ist einfach zu viel, was alles in den letzten Tagen geschehen ist.“
Ich schnappe nach Luft.
„Im nächsten Augenblick, wenn ich glaube wieder aufatmen zu können, werde ich von dem nächsten Ereignis umgehauen. Lange halte ich dieses Hin und Her nicht mehr aus.“
„Dann solltest du vielleicht besser für eine Weile die Augen schließen und auszuruhen versuchen. Du hast jetzt noch etwas Zeit. Bald schon wird dich die nächste Wirklichkeit überrollen. Es ist davon auszugehen, dass zwei Herren bei unserer Rückkehr bereits auf dich warten.“
„Erinnere mich nicht daran!“
Als ich die Augen schließe, beginnt das Kopfkino von neuem. Ich wehre mich nicht dagegen. Lasse mich einfach treiben.
Ich muss eingenickt sein. Als ich erwache, lässt eine kühle Meerbrise mich frösteln. Die Abendsonne ist hinter den Wolken abgetaucht. Von ferne sehe ich eine Gestalt auf mich zukommen. Bald schon steht sie neben mir. Mustert mich von oben bis unten und schüttelt den Kopf.
„Wo ist dein Kelch?“
Der fast scharfe Ton ihrer Stimme lässt mich aufhorchen.
„Kelch? Was meinen Sie?“
„Hat dir vor Kurzem nicht jemand etwas überreicht?“
„Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen. Und überhaupt, was geht es Sie an?“
„Bedauerlich.“
Die Gestalt wendet sich ab.
„Warten Sie!“
In der nächsten Szene begegnet mir ein Junge. Geschickt wirft er seinen Kreisel auf staubigen Boden. Ich fühle mich an alte Tage meiner Kindheit erinnert, Nachmittage, die wir stundenlang mit diesem Spiel zubrachten.
„Willst du auch mal?“
Der Junge lächelt mich verschmitzt an, so als wolle er mich auf die Probe stellen.
„Es ist lange her, dass ich den Kreisel geworfen habe.“
„Mein Großvater sagt, was man einmal kann, verlernt man nicht.“
Mein Ehrgeiz ist geweckt und ich will dem Jungen zeigen, welch ein Meister des Spiels ich einst war.
Der erste Wurfversuch misslingt.
„Der Untergrund ist zu steinig“, wende ich ein.
„Keine Ausreden bitte. Zeige, was in dir steckt!“
Nun will ich es wirklich wissen. Sorgsam wickle ich den Faden um den Kreisel. Ich gebe mich bewusst konzentriert, während ich mich jedoch nur an die notwendige Wurfbewegung zu erinnern versuche. In einem kunstvollen Bogen schleudere ich Kreisel vor mich hin. Nach einigen tanzenden Umdrehungen bleibt er an einem Stein hängen und wird durch ihn abrupt gestoppt.
„Nicht schlecht. Habe ich’s nicht gesagt, das einmal Erlernte vergisst man nicht. Mach’s gleich noch einmal. Und achte dieses Mal auf den Untergrund.“
Kleiner Klugscheißer, denke ich. Und doch hat er recht, mit dem, was er sagt. Allzu gut weiß ich, wie schnell ich sehenden Auges über kleinste Hindernisse ins Stolpern gerate. Wieder einmal bin ich verblüfft, wie viel mehr in diesen kleinen Spielen aus den Kindertagen steckt. Stolpersteine sind doch dazu da, umgangen zu werden. Ein Weg zum Erfolg, nicht nur hier beim Spiel. Und manchmal werden sie einem bewusst in den Weg gestellt, um einen zu Fall zu bringen.
Der nächste Versuch gelingt fast schon perfekt. Der Junge applaudiert spontan und hält mir seine Hand zum Abschlagen entgegen. Als sich unsere beiden Händen berühren, bin ich gerührt von dem intensiven Gefühl, das in mir aufsteigt.
Ich beginne Freude am eigenen Kopfkino zu gewinnen. Ein mehrmaliges lautes Hupen lässt mich jedoch auffahren.
„Was ist passiert?“, will ich wissen.
„Gerade hat jemand auf dieser unwegsamen Strecke durch ein gewagtes Überholmanöver nicht nur sich selbst in Gefahr gebracht. Entschuldige, dass ich dich durch mein Hupen aufgeweckt habe.“
Tief unten im Tal sehe ich eine kleine Ansammlung Lichtern. Ob die Kinder noch den Kreisel kennen, frage ich mich spontan.
Der Glatzköpfige und der Milde erwarten uns tatsächlich schon, als wir eine Stunde später unser Ziel erreichen. Wie nicht anders zu erwarten war, begrüßt uns der Glatzköpfige vorwurfsvoll.
„Hatte ich mich so unverständlich ausgedrückt? Ihnen war es untersagt, die Stadt zu verlassen.“
Ich gehe nicht weiter darauf ein.
„Und nun bin ich wieder da. Das ist doch die Hauptsache. Womit kann ich dienen?“
Der Glatzköpfige läuft rot an. Er kann sich kaum beherrschen.
„Hier bin ich es, der die Fragen stellt.“
Ich nicke, amüsiere mich innerlich aber über so viel Überheblichkeit. Plustere dich nur auf! Irgendwann wirst du ohne Federn vor mir stehen und dich entschuldigen müssen. Bis dahin will ich dir gerne das Gefühl von Macht geben.
„Selbstverständlich!“, äußere ich betont unterwürfig.
„Schluss jetzt mit den Faxen. Die Ergebnisse der Untersuchung sind da. Folgen Sie uns!“
„Nichts lieber als das.“
„Dir wird das Lachen noch vergehen“, faucht mir der Glatzköpfige entgegen.
Als dieser meinen Kopf unsanft in den Wagen drückt, versuche ich, mich abzuwenden. Vergeblich. Die Nähe des Glatzköpfigen hat es Unangenehmes. Seine Ausdünstungen nehmen mir den Atem. Fluchtartig lasse ich mich auf die Rückbank fallen. Neben mir sitzt schon der Milde und sieht mich mitleidig an.
„Lass dich nicht unterkriegen! Denk an all das, was du heute erfahren hast“, ruft mir Pacho zum Abschied zu. Ich schaue ihm nach, bis er an der nächsten Kreuzung aus meinem Blickfeld verschwunden ist.