Am Nachmittag hat das endlose Warten ein Ende. Im Gang höre ich Schritte. Die Freude über Pachos Besuch ist übergroß.
„Ich bin so froh, dass du gekommen bis. Vor lauter Langeweile habe ich angefangen, den Kakerlaken meiner Zelle Namen zu geben. Darf ich vorstellen Che, Fidel und Tamara.“
Ich zeige auf sie und begrüße Pacho mit einer festen Umarmung.
„Wenigstens den Humor hat man dir bisher nicht nehmen können. Dennoch ist es wohl besser, gegenüber den Beamten einen eher geknickten Eindruck zu erwecken. Du nimmst ihnen damit etwas den Wind aus den Segeln. Wie geht es dir sonst?“
In der Frage Pachos liegt tiefe Besorgnis.
„Bescheiden“, antworte ich.
„Das kann ich mir denken. Ich habe den Vormittag genutzt und mich etwas in der Nachbarschaft umgehört. Keiner, den ich nach dem Mord an meinem Vater befragt habe, kann sich vorstellen, dass du wirklich etwas damit zu tun haben könntest. Alle sind von deiner Unschuld überzeugt. Interessant ist, dass einige unverhohlen ausgesprochen haben, was sich als Gerücht schon länger hält. Man ist sich sicher, dass mit der Tat eine alte Rechnung beglichen wurde.“
„Alte Rechnung?!“
„Ein Nachbar, der noch nicht bereit ist genannt zu werden, weil er für sich selbst fürchtet, zur Zielscheibe weitere Handlungen zu werden, ist sich da ganz sicher. Wir haben uns lange unterhalten. Er hat von einigen mir bis heute unbekannten Details aus jener unruhigen Zeit berichten können. Denen zu Folge war mein Vater doch mehr verstrickt in die Ereignisse um die Festnahme Ches, als ich bisher geahnt habe. Wie es scheint, muss es zu einer zufälligen Begegnung meines Vaters und ihm einen Tag vor Ches Verhaftung gekommen sein. Mein Vater ist an dem gleichen Tage dabei beobachtet worden, wie er mit Leuten der Eliteeinheit sprach. Dies könnte das Gerücht bekräftigen, mein Vater habe selbst wichtige Informationen zur Ergreifung Ches beigesteuert. Das Gerücht ist wie gesagt alt. Ich habe derlei stets in die Rubrik Gerüchteküche abgetan, glaube aber nun, es könnte ein wichtiges Indiz für den Mord sein.“
„Das wäre ein Motiv.“
„Dass mein Vater sich kritisch zum Wirken Ches geäußert hat, ist ja kein Geheimnis. Unabhängig wie dieses heute geschichtlich zu bewerten ist, die Hoffnungen, die manche mit Ches Erscheinen verknüpft haben, waren groß. Jubel und Kritik an Che lagen damals nicht so weit auseinander. Und manch einer hat nach seiner Ermordung schnell die Seiten gewechselt, auch wenn er sich insgeheim einen anderen Ausgang der Geschichte gewünscht hätte.“
„Du meinst also, dein Vater ist seiner damaligen Haltung zum Opfer gefallen.“
„In meinen Augen reicht das nicht als Motiv. Es könnte so etwas wie ein negativer Begleitumstand sein. Der Umstand, den sich jemand zu eigen gemacht hat.“
„Woran denkst du?“
„Ich kann es dir noch nicht sagen. Später habe ich noch ein weiteres Gespräch, mit der ältesten noch lebenden Nachbarin. Von diesem verspreche ich mir mehr Aufschluss hinsichtlich des wirklichen Tatmotivs. Außerdem habe ich begonnen, mein Elternhaus nach verwertbaren Informationen auf den Kopf zu stellen. Ich sichte Tagebucheintragungen meines Vaters und alte Fotos. Noch bin ich nicht weit gekommen.“
„Ich bin dir sehr dankbar, dass du so aktiv geworden bist. Heute Morgen war mein Anwalt da. Meine Botschaft hat ihn mit der Verteidigung meiner Person beauftragt. Mein erste Eindruck war nicht besonders. Mir ist er zu jung und unerfahren.“
„Mir scheint ein anderer Umstand schwerwiegender. Wenn die Ermordung ein Teil einer alten Geschichte unsere Stadt ist, dann wird er nicht weit kommen. Die Angelegenheiten, auch die blutigen, regelt man hier unter sich.“
„Das klingt mehr als plausibel. Mich beruhigt darum um so mehr, dass du es bist, der Fakten für zu meiner Entlastung zusammentragen will.“
„Ich werde mein Bestes tun, um dir zu helfen.“
„Wie kann ich dir nur danken?“
„Darüber lass uns reden, wenn es soweit ist. Bis dahin versuche soweit es dir möglich ist, einen kühlen Kopf zu bewahren.“
„Kannst du mir später nach einige persönliche Dinge vorbeibringen? Mein Aufenthalt wird dieses mal wohl etwas länger dauern?“
„Mache ich gerne. Ich schau gegen Abend nochmals vorbei!“
Am Nachmittag werde ich wieder ins Verhörzimmer geführt. Dieses Mal ist es der Milde, der mich abholt. Ich werde nicht recht schlau aus ihm. Ist er so unbeholfen, wie er tut, oder ist alles doch nur ein mit dem Glatzköpfigen abgestimmtes übles Spiel, um mich schneller weichzuklopfen.
„Ich habe Sie holen lassen, um noch einige Details der Tat mit Ihnen klären zu können.“
Der Glatzköpfe, das wird mir bei seinen ersten Worten klar, wird nicht lockerlassen.
„Es ist nie gut, seine Hypothesen zu heiraten.“
In Gedanken sehe ich den Glatzköpfigen schon wieder aufspringen. Stattdessen lehnt er sich zurück und gibt sich verständig.
„Sie glauben also, ich sollte mich nicht länger mit Ihnen abgeben?“
„Warum auch?! Es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis ich als Laienspieler dieser finsteren Provinzposse unbrauchbar geworden bin.“
Ich warte vergeblich auf eine Erwiderung. Der Glatzköpfige sieht den Milden kopfschüttelnd an.
„Sieh an, der feiner Herr ist sich zu schade dafür, bei unseren diesjährigen Passionsspielen mitzuwirken. Ich bin nicht mehr so sicher, ob er wirklich die passende Besetzung für die Rolle des leidenden Christus abgibt.“
„Soll das heißen, ich liege richtig mit meiner Vermutung? Wenn ich zu unrecht festgehalten werde, dann setzten Sie mich endlich wieder auf freien Fuß.“
„Genug mit dem Gerede.“
Der Glatzköpfe haut mit der Faust auf den Tisch.
„Es reicht. Kommen wir zurück zu den Fakten. Wir wollen doch nicht mit haltlose Gedanken oder gar Emotionen unser Zeit verschwenden. Zunächst darf ich Ihnen mitteilen, dass der Kautionsantrag abgelehnt wurde. Man sieht nach dem Ausflug des gestrigen Tages Fluchtgefahr.“
„Das können Sie doch nicht machen“, gebe ich mich betont zerknirscht.
„Zudem möchte ich darauf hinweisen, dass ihre persönlichen Dinge für weitere Untersuchungszwecke beschlagnahmt werden. Also bemühen Sie sich gar nicht erst, weitere wichtige Indizien verschwinden zu lassen.“
Ich bin amüsiert und lache auf.
„Können Sie mir sagen, wie ich dies von hier aus anstellen soll. Wollen Sie etwa auch noch die Rolle des Magiers in Ihrem Stück zukommen lassen. Danke, mir reicht die eine Rolle vollkommen aus.“
„Sie wären nicht der erste, dem dies kleine Kunststück gelingen würde. Wir haben schon jemanden damit beauftragt, alle persönlichen Dinge abzuholen.“
„Darf ich davon ausgehen, dass mir später zumindest meine Zahnbürste überreicht wird. Nach gründlicher Inspektion versteht sich. Man kann ja nicht wissen, ob in mir nicht doch ein kleiner Bond versteckt ist. Ich war immer fasziniert davon, wie er es geschafft hat, in den alltäglichsten Gegenständen sehr nützliche kleine Utensilien zu verstecken.“
Nun ist der Milde, der sich das Lachen nicht verkneifen kann.
„Es reicht! Das Späßemachen wird Ihnen gleich vergehen.“
Ich nicke ergeben.
Ehe ich mich versehen kann, sitze ich schon wieder auf der Pritsche in meiner Zelle. So unangenehm der Glatzköpfige werden kann. Die Treffen mit ihm haben etwas Unterhaltsames.