Ches Mütze XXXI

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Gegen Abend finde ich etwas Ruhe in einer für mich immer noch unwirklichen Umgebung. Che, Fidel und Tamara scheinen es mir gleich zu tun. Weit und breit ist von ihnen nichts zu sehen. Vielleicht haben sie sich auch einfach aus dem Staub gemacht. Ich bin ja kein wirklich interessanter Zellengenosse.

Eine Hand ist es, die mir auf die Schulter tippt. Ich drehe mich abrupt um und weiche erstaunt einen Schritt zurück. Che selbst steht mir gegenüber. Er wirkt nachdenklich.
„Du wunderst dich, mich hier zu sehen?“
„Nun, ich müsste lügen, wenn ich etwas anderes behaupten würde.“
„Die Lage, in der du steckst, ist ziemlich übel. Und ich bin nicht ganz unschuldig daran. Ich bin gekommen, um dir das zu sagen.“
„Unschuldig?“
Ich schüttle den Kopf.
„Mein Verstand scheint mir einen Streich zu spielen. Du bist längst tot und ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns je begegnet sind, noch kann ich mir vorstellen, mit einem Toten zu reden.“
„Lassen wir das Nachdenken über Wirklichkeiten. Im Grunde ist es doch egal, wie es gerade zu unser Begegnung gekommen ist. Ich bin hier, um dir etwas mitzuteilen.“
„Ich wüsste nicht, was mir ein Toter zu sagen hätte.“
„Wart’s ab!“
Che zieht seine Mütze vom Kopf und reicht sie mir.
„Hier nimm sie! Dort, wo ich bin, brauche ich sie nicht mehr.“
„Was soll ich damit? Sag mir lieber …“
Che unterbricht mich.
„Schon gut. Also höre gut zu. Was ich dir zu erzählen habe, könnte dir in deiner gegenwärtigen Lage helfen. Alles ist sehr lange her. Am Tage vor meiner Verhaftung traf ich zufällig auf Álvaro. Ich war in der Nähe von La Higuera unterwegs und sah mich nach einer geeigneten Stellung für den nächsten Angriff um. Trotz meiner Verkleidung erkannte er mich und sprach mich direkt an. Wir haben uns eine Weile intensiv unterhalten. Mir wurde schnell klar, dass ich in Álvaro keine Verbündeten unseres bewaffneten Kampfes gefunden hatte und wollte mich davonmachen, als er mich am Arm festhielt. Es war nicht die Art und Weise wie er mich packte, sein Griff wirkte eher schwächlich. Aber von seinem Blick ging eine ungeheure Kraft aus. Er musste nichts sagen. Ich verstand wortlos, was er mir zu Verstehen geben wollte. Ich fühlte mich gleich an den festen Griff meines Vaters erinnert. Einen Tag später als ich vor dem Erschießungskommando stand, begriff ich die ganze Tragweite dieser Geste. Auf seinen Lippen formten sich Worte. Halt ein! Noch ist es nicht zu spät. Als ich mich im Dickicht wieder davonstahl, nahm ich einen Halbschatten im Augenwinkel wahr. Jemand muss uns beide damals beobachtet haben. Und dieser Jemand war es wohl auch, der die entscheidende Information an unsere späteren Häscher weitergab. Um seine eigene Spur zu vertuschen, hat jener Verräter noch am selben Tag das Gerücht vom vermeintlich Verrat Álvaros gestreut. Wäre ich Álvaros Warnung gefolgt, so würde ich vielleicht noch leben. Wenn ich mich hier und andernorts so umschaue, habe ich mittlerweile so meine Zweifel, ob sich der Kampf damals wirklich gelohnt hat. Was kann eine Handvoll Verrückter gegen die mächtigen Strippenzieher dieser Welt schon ausrichten.“
Bewegt von seinen Worten schaue ich lange in seine Augen. Der mir von Fotos bekanntem entschlossenen Blick ist einem milden und gütigem gewichen. Es ist der Blick eines Menschen, der ganz hinter die Kulissen des Seins geschaut hat.
„Es ist nicht wirklich neu, was ich gehört habe. Aber immerhin bestätigt es eine neuerliche Hypothese. Darf ich, wenn sich die Gelegenheit dazu gerade schon einmal ergibt, eine Rückfrage stellen. Was hat dich gehindert? Ich meine, eure Ziele waren später auch meine. Aber warum hast du nie den Weg des gewaltsamen Widerstands in Frage gestellt. Man kann ja nicht sagen, dass ihr hier draußen in der Provinz auf dem Durchbruch in die Zentralen der Macht ward.“
„Eitelkeit, nichts als Eitelkeit.“
„Ich verstehe nicht ganz. Eitelkeit?“
„Was gibt es schlimmeres im Leben, als sich seiner eigenen Vergänglichkeit bewusst zu sein. Von Kindheit an hat mich mein körperliches Leiden sehr beeinträchtigt. Ich habe ein Leben lang versucht, dieser Geisel zu entkommen. Vergeblich. Ich war ihr schutzlos ausgeliefert. Sie hat mich jeden Tag an meine Vergänglichkeit erinnert. Und wenn es mir zeitweilig gelang, alles zu vergessen, waren es andere, die mich daran erinnert haben, meine Eltern, später Freunde und Weggefährten. Ich wollte es nicht wahr haben. Als mir Álvaro begegnete, wurde mit schlagartig klar, wie sehr ich am Ende war. Kein noch so ausgeklügelter Vereitlungsversuch würde je etwas daran ändern. Sein „Halt ein! Noch ist es nicht zu spät.“ hat mir einen Spiegel vorgehalten.“
Che macht eine Pause.
„Kennst du diese Versuchung … In Augenblicken größer Erkenntnis, dann wenn sich alles wie in einem Puzzlespiel zusammenfügt?“
„Versuchung?“
„Ja, etwas wider besseres Wissen zu tun, einem einmal eingeschlagenen Weg zwanghaft zu folgen, auch dann noch, wenn der Niedergang längst in Sichtweite gekommen ist. Es ist wie ein todbringendes Geschwür, treibt solange sein Unwesen in uns, bis jede Zelle davon erfasst ist. Dann gibt es kein Entrinnen mehr. Es ist der Augenblick, wo man in den Spiegel schaut und das Erscheinungsbild sich zur Fratze verwandelt hat. Dann ist es zu spät. Die Eitelkeit wehrt sich, denn sie will nicht sehen und wahrhaben, was wirklich ist.“
„Ich hätte vielleicht weniger drastischer Worte gefunden. Das Geschwür, von dem du sprichst, kenne ich all zu gut.“
„Als ich mich damals von Álvaro verabschiedet habe, wurde mir mit einem Mal klar, dass der Weg, den ich seit Jahrzehnten eingeschlagen hatte, falsch war. Ich habe nie wirklich, eine Alternative für all die wichtigen Ziele gesucht, für die ich in den Kampf gezogen war. Und doch war ich zu feige, mir mein eigenes Scheitern einzugestehen. Ich bin zu meinen Gefährten zurückgekehrt und haben scheinbar unbekümmert weitergemacht. Als wir dann am nächsten Morgen aufbrachen, war die Gewissheit eines nahenden Endes mein Begleiter.“
Reglos und in sich gekehrt steht ein von der Vergangenheit gezeichneter Che vor mir.
„Die Eitelkeit kommt schleichend daher. Sie nimmt nicht erst besitzt von uns, wenn sich die ersten Falten im Gesicht als Vorboten die Nachricht von unser Vergänglichkeit verkünden.“
Ich beginne zu ahnen, worauf Che hinaus will.
„Sie ist wie ein Stachel, der uns schon sehr früh im Leben eingepflanzt wird und uns bleibend vergiftet. Es ist kaum möglich, dieser Unheil bringenden Wirkung zu entgehen.“
Che räupert sich, während sein Fuß Linien in den staubigen Boden zieht.
„Kannst du dich an den Gesichtsausdruck eines Säuglings erinnern?“
Ches verblüfft mich. Ich schüttle ob seiner Frage den Kopf.
„Als Säuglinge entwickelt sich unser Sehvermögen schrittweise. Ich will dir keinen Vortrag darüber halten, aber auf einen sehr wichtigen und prägenden Umstand hinweisen. Menschen, meist sind es die Eltern, die im Sichtfeld von Säuglinge auftauchen werden zu Vertrauenspersonen. Augenkontakt, Gestik und Mimik gegen dem Säugling ein permanentes Feedback auf eigene Initiativen. Meits ist die Freude über eine neugeborenes Kind grenzenlos und ungetrübt. Wir können nicht anders und strahlen, sind einfach nur ergriffen und glücklich. Niemals werden wir als Menschen so bedingungslos angenommen und geliebt, wie in jenen Tagen. Bald schon kommt es zu ersten Irritationen in der noch jungen Welt des Neugeborenen. Eigenes Schreien wird mit sorgenvollem Gesicht quittiert.“
„Darf ich dich unterbrechen. Ich habe den Eindruck, du lenkst gerade von deinem eigenen Thema ab. Außerdem kann in kaum einen Zusammenhang zu meiner gegenwärtigen Lage erkennen.“
„Ich bitte dich um etwas mehr Geduld. Ich komme gleich auf den Punkt. Die Erfahrungen unserer ersten Lebensmonate sind prägent für unser gesamtes Leben. In diesen Tagen geschieht nach dem Verlassen der Mutterhöhle, die wohl weitreichenste Entzauberung in unserer Entwicklungsgeschichte. Wir fühlen uns bedingunglos angenommen und geliebt und müssen doch feststellen, dass sich der Gesichtsausdruck unseres Gegenübers verändert. Manchmal nimmt er verwirrende und geradezu beängstigende Züge an. Dies ist der Augenblick, in dem wir beginnen, uns so zu verhalten, dass unser Gegenüber wieder strahlen kann. Wir schauen doch alle lieber in ein glückliches und strahlendes Gesicht, oder?“
Ich nicke.
„Für uns ist dies die Geburtsstunde der Eitelkeit. Wir sehen uns im Spiegelbild eines anderen nicht nur so, wie wir sind, sondern mehr und mehr so, wie wir glauben, dass jemand anderes uns sehen möchte. Es ist die Zeit, da wir unser ersten Masken aufziehen und die ersten Rollen in unserem Leben zu spielen lernen.“
Mein Kopfschütteln bringt Che kurz aus dem Konzept.
„Sieh! Ich kenne den sorgenvollen Blick meiner Eltern all zu gut, ihren völlig entgeisterten und hilflosen Blick bei meinem ersten Anfall. Wer blickt als Kind gerne in solche Gesichter? Mit der Zeit habe ich gelernt, weitere Anfälle vor anderen zu verbergen. Für mich allein konnte ich gut mein eigenes Schicksal annehmen. Die sorgenvollen Gesichter waren es, die ich nicht wieder sehen wollte. Vielleicht wäre manches anders verlaufen, wenn mir anfangs vor allem meine Eltern anders hätte begegnen können. Später habe ich eine sehr ausgeprägte Eitelkeit entwickelt. Und doch war es nichts anderes, als der immer wiederkehrende Versuch, das Unabwendbare zu vereiteln. Wieviel Energie hat mich das gekostet. Schmerzen und ein gewisses Maß an Ungemach gehören zum Leben. Hätte ich das zu Lebzeiten verstanden, wäre ich in der Wahl meiner Mittel erfindungsreicher gewesen.“
Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ches Ausführungen wirklich verstanden habe.
„Man wird dich freisprechen. Aber dazu bedarf es eines geschickten Schachzuges. Zunächst muss die Polizei, die Staatsanwaltschaft, all jene die dich schuldig sehen wollen, von ihrer eigenen Eitelkeit abgelenkt werden. Sobald die Eitelkeit eines anderen sichtbar wird, wird man dich auf freien Fuß setzen.“
„Ich werde dich an deine Worte erinnern, sollte mir dies überhaupt möglich sein.“
„Alles ist möglich. Und eines zum Schluss: Eitelkeit ist die Furcht, original zu erscheinen. So die Warnung eines Philosophen. Ich wollte mein Leben lang anders sein, als ich war und bin daran gescheitert. Wäre ich doch nur Ich geblieben. Und in meiner eigenen Vergänglichkeit und Beschränktheit habe ich mich zur Überheblichkeit verleiten lassen, das Los anderer Menschen verändern zu wollen. Hier war ich nicht anders als meine besorgten Eltern, die jahrelang nichts unterlassen haben, um mein körperliches Leiden zu besiegen. Auch sie haben gekämpft und geglaubt, das Richtige zu tun. Wie ich diese Arztbesuche gehasst habe. Irgendwann wollte ich allem nur entfliehen. Aber man kann vor sich selbst nicht fortlaufen. Ist es nicht besser, sich in Bescheidenheit zu üben und sein eigenes Schicksal anzunehmen?“
„Hier kann ich nur zustimmen.“
„Ich will dir den Ausspruch eines Weisen mahnend noch mit auf den Weg geben.“
„Gerne. Ich höre.“
„Während der Zeit, die uns bleibt – ein kurzer leuchtender Moment, der dem vergleichbar ist, in dem ein Sonnenstrahl durch die Wolken dringt -, sollten wir guten Gebrauch machen von diesem Leben.“