Tanzendes Indigo IV

Tanzendes Indigo

Grün. Ich kann gehen. Voranschreiten. Nichts wird mich aufhalten. Etwas drängt vorwärts in mir wie ein sprossender Keim. Lange Zeit im Dunkel verborgen strebt er dem Licht entgegen. Ich richte mich auf, bleibe einen Augenblick auf der Bettkante sitzen. Eine kühle Brise der durch das geöffnete Fenster hineinströmenden Herbstluft weckt meine Geister. Ich bin. Was? Patientin. Zwangseingeliefert nach einem Suizidversuch. Ich war im Dunkel. Schwarz. Dunkel war mein Leben. Grün. Hoffnung. Ich will sie nicht aufgeben. Sie ist alles, was mir geblieben ist. Alwina in ihrem grünen Kittel. Ich seh sieh vor mir. Ein leichtes Prickeln. Ich möchte mich an sie schmiegen. Frida! Was ist mit dir? Mutter, was machst du hier. Du hast im Schlaf aufgeschrien. Hast du schlecht geträumt? Ich betrachte sie misstrauisch. Du willst doch nur dein schlechtes Gewissen beruhigen. Wie kannst du mir nur soetwas unterstellen? Ich bin deine Mutter. Ich mache mir Sorgen und du greifst mich an. Ich bin die Falsche. So, wer ist den der Richtige? Meine Mutter wendet sich ab. Hau ruhig ab! Das ist ja deine Paradedisziplin. Wenn man dich wirklich braucht, bist du unauffindbar. Du erinnerst dich. Frida! Grün. Im Kittel steckt eine Andere. Sie ist fülliger und riecht nicht so gut wie Alwine. Ich bin Brunhild, wir kennen uns noch nicht. Brunhild?! Ich fasse es nicht. Da hat man Ihnen aber einen feinen Namen verpasst. Schicksal oder Programm? Was? Ihr Name. Ihre Eltern werden sich doch etwas dabei gedacht haben. Mein Vater war Wagnerliebhaber und das Lied der Nibelungen eine wiederkehrende Geräuschkulisse bei uns Zuhause. Wir sehen uns an. Ich will ja nicht aufdringlich sein, aber ihr Name kommt auch nicht von ungefähr. Touché! Lassen wir von weiteren Erörterungen unserer Namen ab! Sie führen zu nichts. Kann ich etwas für dich tun? Nein, ich muss geträumt haben. Ist schon wieder gut. Ach doch, eine Tasse von Alwines Spezialmischung wäre jetzt gerade das Richtige. Oh, das tut mir leid. Bei der allgemeinen Versorgung unserer Patienten sind wir für alle zuständig. Aber ich bin Oberarzt Wittig unterstellt. Er hält nichts von den Kräutermischungen von Frau Doktor. Habe ich schon vernommen. Dann bringen Sie mir doch eine heiße Tasse Wasser. Wie Sie wünschen. Brunhild versucht ein Lächeln. Ach, lassen Sie! Ich werde mich meiner Morgentoilette widmen und dann ist ja schon Zeit, zum Frühstück zu eilen. Im Speisesaal? Wie gewohnt, ja! Verbindlichsten Dank für Ihre Erscheinen, aber nun dürfen Sie wieder geschwind das Weite suchen. Kommentarlos verlässt Brunhild mein Zimmer. Eingewickelt in ein Badetuch trete ich ans Fenster. Ich kann nicht glauben, was ich sehe. Die ersten Verrückten geben im Garten bereits ihr Stelldichein. Ich mache eine Ansammlung von Personen aus. Sie sind zu einem seltsam Knäuel miteinander verbunden. Eine weitere Person, ich erkenne den Kugelfisch, steht in unmittelbarer Nähe und gibt Anweisungen. Das Knäuel gerät in Bewegung. Knotenmutter schießt es mir durch den Kopf. Mit diesem Kinderspiel haben wir früher ganze Nachmittage verbracht. Knotenmutter, hilf uns! sage ich leise vor mich hin. Ich trete zurück, ziehe mich an und eile zum Speisesaal. Vielleicht gelingt es mir, als eine der ersten dort zu sein. Noch will ich meine Ruhe. Fürchte neugierige Fragen. Ich bin Patientin. Noch immer ein Unsatz in meinem Kopf. Steriles kaltblaues Licht empfängt mich. Musik ertönt aus Dinosaurierboxen. Klirrende Töne lassen kaum ausmachen, was gerade gespielt wird. Geräuschkulisse, mehr nicht. Der Gesang von Walfischen würde mir als Hintergrund eher zusagen. Ich stopfe appetitlos etwas Obst und einen Yoghurt in mich hinein und flüchte sogleich wieder. Im Herausgehen begegnet mir der Kugelfisch mit glühenden Wangen. Knotenmutter hilf mir! rufe ich ihm hinterher und entferne mich. Schritt. Schritt. Doppelschritt. Fast tanzend hüpfe ich zurück auf mein Zimmer und schmeiße mich rücklings aufs Bett. Ich greife zu meinem Notizbuch, schlage es willkürlich auf und lese: Als ein Mann Tao-hsin besuchte bemerkte er „Mit der Natur und nicht gegen sie leben ist mein einziger Weg.“ Tao-hsin schwieg. Der Mann fragte „Was ist dein Weg?“ Tao-hsin schwieg. Später sagte Tao-hsin zu Hung-jen „Wer auf einem Hügel steht, besteigt ungern einen anderen Berg.“ Ich hüte mein Notizbuch wie ein kleines Heiligtum. Hier hat sich im Laufe der Jahre allerlei angesammelt. Lass die Finger davon! habe ich meiner Mutter stets eingebläuet, bis ich sie eines Tages beim Lesen erwischt habe. Wenn du es noch ein einziges Mal wagst, deine Nase da hinein zu stecken, bring ich dich um. Hoffst du etwa, Einzelheiten der Schandtat zu finden? Fortan habe ich es an wechselnden Orten in meinem Zimmer versteckt. Feuerrot. Mir wird heiß. Kalter Schweiß dringt aus meinen Poren. Hektischer Atem kann die aufkommende Übelkeit nicht abwenden. Arme schlagen wild um sich. Füße treten aus. Ein Schrei. Beruhigen Sie sich! Brunhild hält mich an den Unterarmen fest. Lassen Sie mich los! Was soll das? Sie lässt von mir ab. Rot weicht Schwarz. Ich schließe die Augen. Als ich zu mir komme, schaut mich ein älterer Herr in weißem Kittel an. Frau Carlo, wir werden Ihnen erst einmal etwas zur Beruhigung geben. Kommt nicht in Frage! Frau Carlo ist meine Patientin. Sie wissen genau, was ich von solchen Spritzen halte. Der Herr im weißen Kittel verzieht das Gesicht und weicht zurück. Beim Verlassen meines Zimmers wirft er die Tür verärgert zu. Frida! Ich darf doch Frida sagen? Ich nicke. Da bin ich ja noch gerade rechtzeitig gekommen. Frau Doktor setzt sich zum mir ans Bett und misst meinen Puls. Dabei gleitet ihre Hand auf meinem Handgelenk auf und ab. Xian-mai*  Wie bitte? Du hast einen drahtigen Puls, straff wie eine Gitarrenseite, wie ich es gern bildlich beschreibe. Darf ich mal deine Zunge sehen. Dachte ich mir. Sie ist Feuerrot und belegt. Ein Zeichen für große Hitze in dir. Kannst du dich erinnern, was deinen Zustand gerade ausgelöst hat. Ich … Rot. Rot? Ich habe in meinem Notizbuch geblättert. Dann stiegen alte Erinnerungen in mir auf, mir wurde ganz heiß und gleichzeitig übel. Plötzlich war dieser Weißkittel da. Unser Oberarzt Dr. Wittig. Aber nun bin hier. Ich werde dir einen Tee holen, dann ruhst du dich eine Weile aus. Wenn du es im Liegen jedoch nicht aushältst, dann mach einen Spaziergang und halte dich in Bewegung. Schwester Brunhild soll dich begleiten. Sie ist heute auf der Station für dich zuständig. Du kannst ihr vertrauen. Später sehen wir uns zum Gespräch. Abgemacht?! Ich nicke abermals. Was macht im Übrigen der Appetit. Ich winke ab. Etwas Obst und ein Yoghurt. Mehr war heute Morgen nicht drin. Dabei hat sich mein Magen schon gedreht. Dachte ich mir. Der Tee wird dir helfen, dein Gleichgewicht wiederzufinden, und deinen Magen beruhigen.

* Xian-mai ist eine von den 18 wichtigsten Pulstypen, die in der Traditionellen Chinesischen Medizin auf eine Disharmonie im Körper hinweisen.