Am Abend treffe ich zufällig Alwine auf dem Gang. Du hier? Meine Nachtschicht hat eben begonnen. Bis du schon wieder fit. Nicht wirklich. Aber der Trick mit der Zaubertafel klappt ganz gut. Zaubertafel? Hattest du nie eine? Was meinst du? Na, diese Tafel mit den magischen Fähigkeiten. Ich kann dir immer nicht ganz folgen. Als Kind, ich muss um die fünf Jahre alt gewesen sein, denn ich war noch nicht in der Schule, bekam ich zu Weihnachten eine Zaubertafel. Ich konnte mit einem speziellen Stift auf ihr malen und was mir nicht gefiel gleich wieder löschen. Nun erinnere ich mich. Eine Freundin in der Nachbarschaft hatte genau so eine Tafel. Als Jugendliche hat mich das Prinzip dieser Tafel sehr interessiert. In einer hellen und aber nicht weiter durchsichtigen Flüssigkeit befinden sich am Grund kleinste Eisenspäne. Diese werden durch den Spezialstift mit einer magnetischen Spitze beim Druck auf die Tafel nach oben geholt. Ein magnetischer Hebel unter der Tafel zieht die Späne wieder nach unten und lässt das Bild verschwinden. Dieser Moment, wo das gerade noch sichtbare Bild verschwindet, hat etwas Magisches. Vor einiger Zeit habe ich beim Einkauf eines Geburtstagsgeschenkes für meine Nichte die Wundertafel wiederentdeckt und gleich mitgenommen. Gekauft, meinst du?! Natürlich, was denkst du. Alwine lacht mich an. Seitdem schreibe ich alle belastenden Erfahrungen eines Tages auf und wischen sie gleich wieder weg. Ein kleines Ritual, um das Belastende einer Schicht zurückzulassen und nicht in die nächste zu nehmen. Klappt das? Nicht immer, aber so kann ich besser Abstand zu meinem Alltag hier gewinnen. Ich runzle die Stirn. Was überlegst du? Es wäre doch hilfreich, wenn man mit belastenden Dingen aus seinem eigenen Leben genauso verfahren könnte. Tabula rasa machen, sozusagen. Wegwischen und in die tiefsten Tiefen verbannen. Das Bild mit der Zaubertafel hat nur einen Haken. Welchen? Nun, es ist doch der Stift, der alles erst hervorholt. Übertragen heißt dies, es sind unsere Erfahrungen und Gedanken, die alte Erinnerungen aufsteigen lassen. Man müsste sich also schon komplett aus dem Leben verbannen können. Mir fällt ein, Frau Doktor hat auf einer internen Fortbildung etwas gesagt, was ich nicht vergessen habe: Erinnerung ist ein Vorgang, bei dem wir fortwährend Eindrücke auswählen, sortieren und löschen. Erinnerungen verändern sich also. Sie sind kein statisches Etwas, das für alle Zeit so bleibt. Erinnerung verwandeln sich. Im Grunde erinnern wir uns immer nur an das, was zu dem gerade Erlebten passt. Meinst du wirklich? Ich brauche also Unangenehmes nur aus meinem Kopf zu verbannen und habe damit gleichzeitig alle möglichen damit zusammenhängenden Erinnerungen gelöscht. Das wäre wohl zu einfach gedacht. Wie dann? Du verwirrst mich mit deinen Ausführungen. Entschuldige, das war nicht meine Absicht. Wenn es in die Tiefen der Psyche geht, merke ich immer wieder, dass ich mit meinen Kenntnissen schnell an eine Grenze stoße. Obwohl, eines muss man Frau Doktor lassen, sie macht aus ihrem Wissen kein für andere nebulöses Etwas. Sie kann die schwierigsten Dinge meist einfach und verständlich erklären. Also lass dich nochmals von ihr in die Welt der Erinnerungen einführen! Mal sehen. Aber du hast mein Interesse auf etwas anderes geweckt. Kannst du mir solch eine Zaubertafel besorgen. Vorläufig komme ich ja hier nicht weg und habe somit keine Gelegenheit dazu. Gerne, mache ich. So jetzt will ich mich aber um eine Patientin kümmern, die mich zu sich gerufen hat. Vielleicht bis später. Bestimmt, denn auch ich weiß, wo der Knopf ist. Um eines möchte ich dich schon jetzt bitten. Eine Tasse von eurem Zaubertee. Du meinst die Spezialmischung von Frau Doktor. Genau die. Zaubertee finde ich treffender, denn er tut mir gut. Das ist schon ein kleines Wunder, wenn ich bedenke, wo ich mich vor Kurzem noch befunden habe. Alwine wendet sich ab und geht. Unbemerkt folge ich ihr einige Schritte. Du riechst wirklich gut. Der Abend zieht sich. Beim dritten Klingeln erscheint Alwine nicht mehr. Ich versuche, mich mit dem Lesen eines Buches zu zerstreuen, aber es gelingt mir nicht. Es ist nach Mitternacht, als ich endlich Ruhe finde. Ein Alptraum reißt mich wieder aus dem Schlaf. Die Erinnerung beginnt zu verschwimmen. Schemenhaft sehe ich eine Gestalt. Ich schließe die Augen, will nochmals in den Traum eintauchen. Die mir mit ihrem Rücken abgewandte Person sitzt vornübergebeugt an einem kleinen Tisch und kritzelt auf einem weißen Blatt herum. Als ich näher komme, kann ich deutlich mein Abbild auf dem Blatt erkennen. Die Person dreht sich um und grinst mich hämisch an. Dann fährt der Stift erneut über das Blatt. Ein fetter Strich durchkreuzt alles. Er ist so fest gezogen, dass das Blatt an eine Stelle aufgerissen wird. Unterhalt eines Auges klafft ein riesiges Loch. Die Person dreht sich um und ich erkenne … Wen? Nun komm schon, du musst dich erinnern! Wen hast du gesehen? Rot. Panik. Nicht wieder diese Hitze. Ich springe aus dem Bett. Hüpfe zunächst auf der Stelle. Schlackere mit den Armen und Beinen. Ich reiße das Fenster auf. Raus mit euch! Ich kann euch nicht gebrauchen. Nach einer Weile wird mir kalt. Ich greife zur Bettdecke und lege sie wie einen Mantel um mich. Nicht stehenbleiben, sagt etwas in mir. Auf und ab! Irgendwann kann ich meine kalten Füße kaum noch spüren. Da geht die Tür auf. Alwine sieht mich verwundert an. Was machst du hier? Du weckst mit deinem Stampfen alle auf. Und wie siehst du aus? Mir ist kalt. Außerdem habe ich irgendeinen Müll geträumt. Die Kälte hat mir geholfen, wieder ganz wach zu werden und den Faden, den mein Kopf im Schlaf gesponnen hat, zu kappen. Du kannst dich an nichts mehr erinnern? Weißes Blatt mit Kopf und Strich durch. Mehr nicht. Dann sieh mal zu, dass du noch etwas Schlaf findest. Morgen erwartet dich gleich um neun das nächste Gespräch mit Frau Doktor. Glaub ja nicht, ich würde mich zum Vergnügen hier wach halten. Das weiß ich doch. Schlaf gut! Ich geb mein Bestes. Aber wenn mein Kopf mich nochmals in den Abgrund schickt, werde ich dich heimsuchen. Besuche im Schwesternzimmer sind nur im äußersten Notfall erlaubt. Und der liegt nicht vor. Nun versuch wirklich, zu schlafen!