Tanzendes Indigo VIII

Tanzendes Indigo

Da träumte ihm erst von unabsehlichen Fernen, und wilden, unbekannten Gegenden. Er wanderte über Meere mit unbegreiflicher Leichtigkeit; wunderliche Thiere sah er; er lebte mit mannichfaltigen Menschen, bald im Kriege, in wildem Getümmel, in stillen Hütten. Er gerieth in Gefangenschaft und die schmählichste Noth. Alle Empfindungen stiegen bis zu einer niegekannten Höhe in ihm. Er durchlebte ein unendlich buntes Leben; starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leidenschaft, und war dann wieder auf ewig von seiner Geliebten getrennt.
Novalis – Heinrich von Ofterdingen

 

Ich lasse dich einen Augenblick alleine. Leg dich auf die Coach und komme langsam zurück von dort, wo dich deine Flügel hingetragen haben. Ich werde dir einen Tee holen. Schwebendes Blau. Von Weitem höre ich die Brandung des Meeres. Ich beschleunige meinen Schritt. Etwas außer Atem erreiche ich die Kuppe der Düne. Ein fast menschenleerer Strand liegt vor mir. Ich gleite die Düne hinunter, spüre den warmen Sand unter meinen Füßen. Nackt stürze ich mich in die Fluten. Mehrmals tauche ich unter den über mir zusammenbrechenden Wellen hindurch, bis ich wie ein Stück Holz auf dem Rücken liegend mich dahin treiben lassen kann. Frida! Hier bitte! Danke. Wohin bis du enteilt? Sie haben mich gerade noch rechtzeitig aus dem Meer gefischt. Wer weiß, wo ich noch gelandet wäre. Das hört sich interessant an. Auch ich bin gerne am Meer. Ich genieße die Weite des Horizonts. Sie hat etwas Grenzenloses, auch wenn mir mein Verstand sagt, dass irgendwo wieder ein Stück Land ist. Wir haben noch etwas Zeit heute. Lass uns eine Weile über die Wahrheit reden. Wahrheit? Was meinen Sie? Ich meine das, was uns sagen lässt, dass nicht sein kann , was nicht sein darf. Du hast vielleicht schon einmal davon gehört beziehungsweise am eigenen Leib erfahren, dass es die Wahrheit eigentlich nicht gibt. Jeder betrachtet die Welt doch immer so, wie er gewohnt ist, sie zu sehen. Bis eine neue Sicht hinzukommt und alles in einem etwas anderem Licht erscheint. So ist es. Wenn ich jedoch meine Sicht auf die Dinge erweitere, weil etwas geschehen ist, was meinen Blick auf mein eigenes Leben verändert, dann mag für mich alles sehr einleuchtend erscheinen. Aber schon, wenn ich mit einer vertrauten Person darüber rede, kann es mir passieren, dass diese mir erklärt, wovon ich ihr gerade berichte, könne nicht sein. Auch meine wiederholten Beteuerungen, es sei genauso so, wie ich es gerade beschrieben habe, werden daran nichts ändern können. Frau Doktor kommen Sie bitte auf den Punkt. Oder wollen Sie mich nur um meinen Verstand bringen? Frida, was soll das? Ihre Stimme klingt ärgerlich. Schon gut. Fahren Sie fort! Ich habe verstanden, dass es die eine Wahrheit für uns nicht gibt. Aber worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Ich will dir zu verstehen geben, dass es gelegentlich vorkommen kann, dass wir etwas erleben, so real wie es nur sein kann, wir im Nachhinein jedoch beginnen, dass Erlebte in Frage zu stellen. Warum sollte ich? Was ich erlebe, ist und bleibt, was es ist. Schön oder grausam. Leider nicht. In dem Augenblick, wo unsere Umgebung auf unsere eigenen Erfahrungen mit Skepsis, gar ablehnend reagiert, beginnen wir selbst, alles zu hinterfragen. Ich will damit sagen, das ist der Augenblick, wo wir uns darüber klar werden müssen, ob etwas wirklich wert ist, in Erinnerung gehalten zu werden. Bei traumatischen Dingen, die wir erleben, geht es also nicht allein darum, ob wir in der Lage sind, Schreckliches zu verarbeiten, sondern vor allem auch darum, wie unsere Umgebung darauf reagiert. Wenn wir erkennen, was gerade geschehen ist, dieses daraufhin einem anderen im Detail berichten und zudem sagen können, was es in uns ausgelöst hat, kann die bloße Erwiderung des Anderen „Das kann doch nicht sein.“ wie ein Druck auf den Resetknopf sein. Alles verschwimmt. Eine meist unbedachte Bemerkung und wir wissen plötzlich selbst nicht mehr, was wir denken sollen. Wahr bleibt folglich, was alle für wahr halten? Ist es das, worauf Sie hinaus wollen. Nicht alle, aber jene, die für unser Leben wichtig sind. Dazu gehören meist Familienangehörige, in den ersten Jahren Eltern, Geschwister und Großeltern. Ich habe den Eindruck, das von Ihnen Gesagte ist immer noch nicht mehr als eine lange Vorrede. Könnt Sie sich nicht einmal etwas kürzer fassen? Frida, dein kritischer Geist gefällt mir. In der Tat, das, was ich nach der längeren Vorrede. Längeren?! Sie machen wohl Witze. Gut, ich will dir gar nicht widersprechen, aber lass mich auf den Punkt meiner Ausführungen kommen. Aus dem, was du mir bisher erzählt hast, kann ich entnehmen, dass du einen, möglicherweise mehrere gewaltsame Übergriffe erlebt hast. Ich schaue sieht skeptisch an. Aus deinen Schilderungen geht nicht eindeutig hervor, wer dir Gewalt angetan hat. Ich habe sehr wohl gehört, dass deine persönliche Deutung dir nahelegt, dein Vater sei derjenige, der dich vergewaltigt hat. Deine Erinnerung ist aber wie gesagt hier nicht eindeutig. Das Gesicht, welches du erwähnt hast, konntest du keiner dir bekannten Person zuordnen. Richtig? Ich nicke. Und? Damit gibt es keinen zweifelsfreien Beweis ein Vergehen deines Vaters dir gegenüber? Sind sie nun auch noch Kommissarin, Frau Doktor? Deine Frage nehme ich einmal als Kompliment. Wenn wir gemeinsam mit unseren Patienten in ihrer Lebensgeschichte forschen, suchen wir ja letztlich nach nichts anderem als nach haltbaren Zusammenhängen. Mir ist immer noch nicht klar, was Sie mir wirklich sagen wollen? Was glaubst du? Heißt das, Sie gehen davon aus, dass mich jemand anderes vergewaltigt hat? Nun, der Umstand, dass du das Gesicht nicht klar vor Augen hast, kann verschiedenes bedeuten? Die Person ist dir wirklich nicht bekannt. Dir ist die Person zwar bekannt, aber etwas in dir verhindert, dass du diese Person nochmals bewusst siehst. Gleiches würde gelten, wenn es nicht dein Vater wäre und du eine andere dir bekannte Person nicht als Täter sehen kannst, weil sie dir emotional auch sehr nahe stand. Warum sage ich dir dies alles? Und glaube mir, ich will dich wirklich nicht verwirren. Ich möchte nur, dass du ganz bewusst darauf achtest, in welcher Form deine Erinnerungen in dir hochkommen und beginnst, diese kritisch zu betrachten. Bei allem, was du denkst und erinnerst, kann es immer wieder sein, dass jemand anderes gerade in dir in Erscheinung tritt und mit Hilfe sekundäre, das heißt, nicht von dir stammenden Einwände deine Erinnerung zu erneut zu manipulieren versucht. Die Wahrheit all dessen, was du erlebt hast, kennst nur du. Sie soll und darf ans Licht kommen, auch wenn jemand anderer Meinung sein sollte. Meine Aufgabe ist es, dich zu begleiten und dir unterstützend zur Seite zu stehen. Am Ende sollen sich alle bislang für sich stehenden Einzelheiten zu deiner persönlichen Geschichte verbinden. Sie erzählen zu können, wird nicht der einzige aber ein wichtiger Schritt für dich sein, dein Trauma zu verarbeiten. Etwas umständlich ausgedrückt, aber ich denke, ich habe Sie verstanden. Lass mich dir zum Schluss noch eine kleine Anekdote erzählen. Kurz will ich hoffen. Kurz. Ein Schüler kam einst zum Meister und fragte ihn: ‚Meister, ich bin auf der Suche nach der Wahrheit. Erzähl du mir als weiser Mann von ihr.‘ Daraufhin erwidert der Meister. ‚Stell dich vor einen Spiegel und betrachte dich selbst.‘