Keiner wird sich je beschweren,
Keiner wünschen fort zu gehen,
Wer an unsern vollen Tischen
Einmal fröhlich saß.
Klagen sind nicht mehr zu hören,
Keine Wunder mehr zu sehen,
Keine Thränen abzuwischen;
Ewig läuft das Stundenglas.
Novalis – Heinrich von Ofterdingen
Im Flur begegne ich einer Frau in einem schwarzen Kleid. Ihr graues Haar ist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In fahlen Augenhöhlen haben ihre blauen Augen jeden Glanz verloren. Ihr Gang ist schwer. Ich sehe ihr nach. Am Ende des Flures bleibt sie am Fenster stehen und sieht hinaus in den Garten. Plötzlich klappt sie zusammen und schlägt mit dem Kopf unsanft auf dem Boden auf. Ich eile zu ihr. Aus einer klaffenden Wunde rinnt das Blut. Hilfesuchend schaue ich mich um. Alwine! Ich schrei, so laut ich kann. Die Frau liegt bewusstlos in meinen Armen. Intensiver Eisengeruch nimmt mir fast den Atem. Mir wird schummrig. Im Blickfeld taucht Grün auf. Alwine, endlich. Frida, was ist passiert? Worte dringen durch einen dichten Schleier zu mir. Lass los! Energische Worte. Ich übernehme. Ich stehe auf und taumle in mein Zimmer. Es dauert eine Weile, bis ich wieder klar denken kann. Schwarz. Die Frau trug schwarz. Wie jemand, der in Trauer ist. Heute Nacht hat sich in Zimmer 23 ein Mädchen das Leben genommen. Sie soll erst 12 Jahre alt gewesen sein. Sicher vor sich selbst ist hier wohl niemand. Pia war ihr Name. Gestern habe ich sie mit Kugelfisch im Garten gesehen. Sie schienen sehr vertraut miteinander. Schwarz. Die Frau muss ihre Mutter sein. Mutter. Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass ich an sie denke. Wir haben uns seit über zehn Jahren nicht gesehen. Genaugenommen, seitdem ich von zu Hause weg bin. Zuhause. Was ist das, frage ich mich. Ein Ort der Geborgenheit, der schon vielen zum Verhängnis geworden ist. Zuhause ist dort, wo meine Freunde sind. Dies steht in Pink irgendwo in meinem Notizheft. Der Ausspruch einer Freundin gefiel mir und ich habe ihn gleich festgehalten. So oder so. Pia hatte wohl kein Zuhause. Keinen Ort wo sie Geborgenheit und Liebe gefunden hat. Keinen Ort, wo sie sich einfach nur fallen lassen konnte. Wahrscheinlich liegt ihr Körper längst in der Gerichtsmedizin. Kalte Haut auf kaltem Metall. Neugierig schaue ich durch meine Zimmertür nach draußen. Der Flur ist leer. Ist überhaupt etwas passiert. Leide ich einmal mehr an Einbildung, wie meine Mutter stets zu sagen pflegte, wenn ihr gerade mal wieder die Argumente ausgingen. Oder sie nicht bereit war, dem Offensichtlichen ins Angesicht zu schauen. Wie damals, nach jener Nacht. Rot. Schwarz. Rot. Schwarz. Blut schießt in meinen Kopf. Ich hasse dich. Du hast mich alleine gelassen. Irgendwann sagte sie zu mir, einige Zeit, nachdem mein Vater uns verlassen hatte, nun bin ich deine Familie, dein Zuhause. Ich bin gleich auf die Toilette gerannt und habe mich übergeben. Wie kann jemand, der das eigene Kind verrät ein Zuhause sein? Ich hasse dich, bis heute, für das, was du mir angetan hast. Vor allem aber für das, was du nicht getan hast. Sie hat mich verraten, im Stich gelassen, gerade in jenem Augenblick, wo ich sie am dringendsten gebraucht hätte. Ich höre ihre Stimme. Frida, ich habe dir Pfannkuchen zum Frühstück gemacht. Die magst du doch so gern. Selbst als ich den Teller auf den Boden warf, hat sie noch gelächelt. Liebes, was ist mit dir? Hast du schlecht geschlafen? Rot. Schwarz. Rot. Schwarz. Ich hasse dich. Wo ist Papa? Mein Vater war an jenem Morgen nicht da. Auf Dienstreise. So, auf Dienstreise. Das ich nicht lache. Heute Nacht habe ich ihn … Mehr kam nicht aus mir heraus. Diese lächelnde Fratze. Schau mich nicht so an! Du weißt, wovon ich rede. Liebes, was ist nur mit dir? Du bist ja ganz außer dir. Soll ich den Arzt rufen. Damit er mir wieder so eine Spritze gibt. Sie will mich umarmen. Ich springe auf. Fass mich nicht an! Im Türrahmen wende ich mich nochmals um. Ich hasse dich. Ihr Lächeln ist einer versteinerten Grimasse gewichen. Ich haaaaaasse dich. Das Schlucken fällt mir schwer. Mein Hals brennt. Heute nach so vielen Jahren. Am Waschbecken kühle ich mein Gesicht unter fließend kaltem Wasser. Trinke einen Schluck Leitungswasser. Die Wahrheit kennst nur du. Ich betrachte mein Spiegelbild. Ich sehe schrecklich aus. Rote glühende Wangen und gleichzeitig dunkle Augenringe. Rot. Schwarz. Du musst die Erinnerungen kritisch betrachten! Aber es war, wie es war. Es gibt keinen Zweifel. Ich werde mich nicht länger von Mutter oder anderen für verrückt erklären lassen. Er war es, das steht fest. Mein Held. Warum kann ich ihn trotz allem nicht so hassen wie Mutter? Schließlich. Hat er wirklich. Frida! Im Türspalt erscheint Alwines Kopf. Sie lacht mir zu. Danke, für deine spontane Hilfe eben. Wer weiß, wann wir sie sonst gefunden hätten. Sie hat sich eine ganz schöne Platzwunde zugezogen. Ist das Pias Mutter? Du hast schon davon gehört. Ja. Pia hat sich letzte nach mit ihrem Bettlaken am Fenstergriff stranguliert. Dumm gelaufen! Frida, lass die Scherze. Das ist unpassend. Entschuldige. Natürlich ist das unpassend. Dennoch irgendwie eine Ironie des Schicksals. Wir kommen wie ich hierher, weil wir unserem Leben ein Ende bereiten wollten. Werden, so sagt ihr, vor uns selbst geschützt und dann das. Wir können euch ja nicht ans Bett fixieren. Für Frau Doktor geht das gar nicht. Vielleicht würde Pia so noch leben. Lass uns keine medizinische Debatte darüber führen! Wie geht es dir heute? Wenn ich davon absehe, dass mir mein Kopfkino ständig alte Filme präsentiert ganz gut. Und wenn diese Hitze und gleichzeitige Kälte wie eben nicht wäre noch besser. Alwine schaut mich fragend an. Sieh mich nicht so an. Der blanke Horror. Was? Reicht es nicht, fürchterliches im Leben erlebt zu haben. Muss man sich daran auch noch ständig erinnern. Sag du’s mir! Wie? Nur du weißt, warum dies so ist. Ich schüttle den Kopf. Ich glaube, dass wird mir gerade zu viel. Wenn es deine Zeit zulässt, dann bring mir doch bitte einmal die Spezialmischung. Vielleicht bin ich später wieder mehr zum Reden aufgelegt. Im Augenblick möchte ich einfach nur meine Ruhe.