Wie geht es dir heute? Finster. Kalt. Alles ist irgendwie unwirklich. Das Leben ist manchmal unwirklich, weil es sich so zeigt, wie wir es ganz und gar nicht erwartet hätten. Ich habe gelernt, derlei Irritationen sehr ernst zu nehmen. Gerade dann, wenn in uns ein fürchterlicher Orkan wütet. Unsere letzte, die wirklich letzte Stunde gekommen zu sein scheint. Dann sage ich mir: Vertraue auf deine Instinkte und alles wird gut! Bewahre Ruhe und bleib auf Kurs! Solche Augenblicke sagen uns manchmal mehr über das Leben und uns selbst, als wir glauben. In Ordnung. Ich will nicht widersprechen. So viel habe ich in diesen Tagen bereits verstanden, Widerspruch ist mehr als die einfache Gegenrede. Ich entdecke eine ganz neue Art der Wahrnehmung an mir. Wenn ich auf meinen Körper höre, dann meldet er öfter als sonst Widerspruch an. Früher habe ich in meinem Körper nicht mehr als eine Hülle gesehen, die nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Seit kurzem spüre ich, dass Körper und Psyche sich gegenseitig bedingen. In ständigem Austausch miteinander sind. Ich habe Frau Doktor mit dem Gesagten beeindruckt. Darum ist alles, was Ausdruck findet, alles was du zeigst wichtig und bedeutsam. Ich werde verlegen. Auch mein Zerstörungsakt. Ich kann mich nicht erinnern, aber mir wurde davon berichtet. Auch der. Das etwas ist und sich zeigt, ist mir wichtiger, als welche Wirkung es erzeugt. Dafür musste ich gerade wieder meinen Kopf hinhalten. Hat mein Tobsuchtsanfall ein Nachspiel? Muss ich für den Schaden aufkommen? Wenn es nach Dr. Wittig gehen würde, auf jeden Fall. Aber sei beruhigt, dank meiner Erfolge bei meinen Patienten sieht der Verwaltungsrat der Anstalt von unnötigen Konsequenzen ab. Dr. Wittig lässt keine Gelegenheit aus, Widerspruch zu erheben, deutlich zu machen, dass durch entsprechende Medikation der Anstalt teure Kosten für Renovierungsmaßnahmen erspart blieben. Bin ich nicht die Einzige, die … Nein, es kommt immer wieder mal vor. Ich bin ganz froh, dass es so ist. Zerstörung, wie in deinem Falle, die sich nach außen richtet, werte ich als ersten Erfolg einer Neuorientierung des Ichs. Also habe ich mir selbst nichts angetan? All deine Verletzungen sind ausschließlich Folge deiner Zerstörungsaktion. Dass du Gewalt nicht mehr gegen dich selbst richtest, ist ein wichtiger Schritt, Ausdruck dafür, dass du im Begriff bist anderes mit dir selbst umzugehen. Das beruhigt mich. Ich dachte schon, es wäre ein Rückfall gewesen. Es sollte nicht zur Gewohnheit werden. Soweit ich dies bewusst steuern kann, will ich dies versprechen. Mach dir keine Gedanken! Nur ganz selten wiederholen sich solche Aktionen bei meinen Patienten. Darf ich dir nun ein paar Bilder zeigen, damit du einen Eindruck von den Ereignissen bekommst. Ich zögere einen Augenblick. Dann nicke ich. Sie reicht mir einige Fotografien. Ich bin erschreckt über das Ausmaß der Verwüstung, die ich angerichtet habe. Das war ich? Ja, das warst du. Ohne jeden Zweifel. Wow! Ich kann nicht glauben, dass ich dazu fähig bin. Ich schäme mich. Du hast keinen Grund. Betrachte einfach die Bilder und sage mir, was dir dazu einfällt. Ich hole tief Luft. Das erste Bild zeigt das Zimmer in einer Totalen. Da muss jemand ganz schön viel Wut in sich gehabt haben. Einen Stuhl zertrümmert man ja nicht einfach so. Selbst der Kleiderschrank ist nicht ungeschoren davongekommen. All meine Kleidung liegt verstreut auf dem Boden. Und, wenn ich richtig sehe, fehlt ein Brett. Nein, das Fenster ist völlig zersplittert. Du hast das Brett mal eben durch das Fenster geschleudert. Zum Glück stand niemand in Wurfweite. Oh Gott! Wo bin ich? Schau genau hin. Sind das meine Beine, die unter dem Bett hervorlugen? So ist es. Auf den nächsten Bildern sind Detailaufnahmen. Ich zucke innerlich zusammen. Mann oh Mann, ich kann mich nicht erinnern, schon mal so ausgerastet zu sein. Irgendwann habe ich mit einer Tasse nach meiner Mutter geworfen. Das war aber schon alles. Auf dem letzten Bild sehe ich mich selbst. Eingewickelt in den Gardinenschal. Habe ich mich so unter das Bett gelegt. Es scheint so. Warum fragst du? Ich gleiche mehr einer Wurst im Teigmantel, als einem lebendigen Wesen. Frau Doktor lacht auf. Was für ein Vergleich. Alwine hat mir erzählt, ich habe etwas in den Händen gehalten. Ein blaues Büchlein. Mein Traumbuch. Wir haben natürlich nicht hineingeschaut. Es liegt in deinem neuen Zimmer auf deinem Nachttisch. Ich bin erleichtert. Woran kannst du dich eigentlich noch erinnern? Nicht fiel. Ich hatte fürchterliche Darmschmerzen. Alwine war da, später auch Sie. Sie haben mir noch einen ziemlich übel schmeckenden Tee zukommen lassen. Hat er geholfen? Ich glaube schon. Was war dann? Dann habe ich, um mir bis zum Abendbrot etwas die Zeit zu vertreiben, in meinem Traumbuch geblättert. Dabei habe ich festgestellt, dass meine letzten Eintragungen schon lange zurückliegen. Schwarz. Rot. Frida! Was lässt dich schneller atmen. Was siehst du? Eine Gestalt, die aus dem Schatten tritt. Ich liege im Bett. Schwarz. Rot. Kennst du die Person? Nein, ich kenne sie nicht. Oder doch?! Aber … Mir wir übel. Ich liege auf meinem Bett. Frau Doktor sieht mich entspannt an. Wir haben dich in dein Bett gebracht. Du hast für kurze Zeit das Bewusstsein verloren. Was ist passiert? Du warst dabei mir etwas zu erzählen. Eine Person tritt aus dem Schatten. Du kannst nicht sagen, wer sie ist. Dann zweifelst du und schon warst du weg. Weg? In Ohnmacht gefallen. Ach so. Ich dachte schon. Du hast vorhin von deinem Traumbüchlein erzählt. Wo ist es? Ich entdecke es auf meinem Nachttisch. Du hast es nicht nur festgehalten. Ein Finger stecke an einer Stelle. Wir haben, an dieser Stelle einen kleinen Zettel hineingesteckt. Also habt Ihr doch darin gelesen? Nein. Natürlich nicht. Wir sind doch keine Kriminalisten, die ohne dein Wissen in deinem Leben herumschnüffeln. Was du uns nicht selbst sagst … Das erfahrt Ihr nicht. Ganz genau. Aber wenn du magst, kannst du entscheiden, ob du jetzt nochmals nachschlagen und wissen möchtest, wo dein Finger sich befand. Ich bin unschlüssig. Meine Neugier ist größer. Ich schlage die Seite auf. Entscheide du selbst, ob du mich daran teilhaben lässt. Ohne weiter darüber nachzudenken, beginne ich laut zu lesen. Ich hatte wieder diesen fürchterlichen Alptraum. Eine Gestalt, die ich nicht erkennen kann, kommt nachts in mein Zimmer. Ich schlafe. Als sie anfängt, meinen Körper zu streicheln, erwache ich. Ich will das nicht und wehre mich. Ich will schreien, aber schon liegt eine nach Tabak stinkenden Hand auf meinem Mund. Ich würge. Ich winde mich. Versuche in die Hand zu beißen. Ich schließe die Augen, will nicht erleben, was als nächstes geschieht und wache auf. Ich bin nun wach und zittere am ganzen Körper. Was verfolgt mich da in meinen Träumen? Und, was hat dich verfolgt? Ich schüttle den Kopf. Ich weiß es nicht. Ich habe immer gedacht, mein Vater … Sprich es aus! Mir stockt der Atem. Ich beginne stotternd. Meeeein Vaaater habe mich vergewaltigt. Woher weißt du das? Ich kann es nicht sagen. Es ist einfach da. Was ist da? Dieser Gedanke. Der Streit mit meiner Mutter. Ihre Drohung, ihn zu verlassen, wenn er nochmals … Was? Ich denke, er hat mich vergewaltig. Bist du sicher? Ich weiß es nicht. In jedem Fall scheint dir jemand so nahe gekommen zu sein, wie du es nicht wolltest. Kann ich mir dies auch ausgedacht haben? Träume sind doch Schäume. Das nächtliche Kopfkino ist zu einigem fähig. Aber meiner fachlichen Einschätzung nach ist es ganz und gar undenkbar, dass jemand von Gewalt träumt, die er nicht selbst erfahren hat. Andere mögen hier anders denken. In unseren Träumen verarbeiten wir einiges. Wir würfeln und sortieren neu, hat jemand mal gesagt. Aber die Grundlage für alles sind doch reale Ereignisse, Erfahrungen, Emotionen. Gerade das Unangenehme, offene Fragen im Leben holen uns nachts gerne immer wieder ein. Aber, dass der Traum ein Schauplatz von Visionen der Zukunft ist, halte ich für ausgeschlossen. Es ist die Vergangenheit, die uns träumen lässt. Sie ist erschreckend und liefert genug Stoff für jede Nacht. Die Zukunft muss uns nicht schrecken. Die Vergangenheit, die sich unendlich in der Zukunft fortsetzt aber sehr wohl. Ich lege das Büchlein zur Seite. Was fühlst du gerade? Eine Hitze, wie ich sie spüre, wenn ich sehr wütend bin. Macht das Gelesene dich wütend. Rot. Sehr. Du ballst die Fäuste. Habe ich deshalb alles kleingehauen? Es spricht vieles dafür. Wahrscheinlich ist deine Wut mit aller Wucht aus dir herausgetreten. Ich bin froh, dass es so wahr. Aber gleichzeitig erleichtert, dass du dir keine schweren Verletzungen zugezogen hast. Vielleicht wäre der Boxsack gerade das Richtige für dich. Ich schaue auf meine Hände. Geballt, graben sich die Finger in meine Handflächen. Ich spüre einen leichten Schmerz. Dort kannst du deine ganze Wut herauslassen. Ich werde dich begleiten. Wie ist es? Sehen wir uns morgen im Bewegungsraum? Hört sich gut an. Ich werde da sein. Für heute würde ich dir empfehlen, keinen weiteren Blick in dein Traumbüchlein zu werfen. Sie glauben, sonst … Nein, ich habe nicht die Befürchtung, dass du dieses Zimmer auch zerlegen könntest. Aber für heute soll es reichen. Versuche dich zu entspannen. Geh tanzen! Tanzen? Ich verstehe nicht recht. Heute Nachmittag ist ein Tanzworkshop. Vielleicht hast du Lust dazu. Warum nicht.