Wie war das Tanzen gestern? Keine gute Idee. Anfangs habe ich es genossen, mich frei zur Musik zu bewegen. Ich habe meinen Körper gespürt. Er war leicht. Ich bin ganz im Rhythmus aufgegangen. Aber? Alles war gut, bis irgend so ein durchgeknallter Typ sich an mich rangemacht hat. Rangemacht? Was meinst du? Er wollte mir nahekommen. Hat mich seinen dicken Wurstfingern berührt. Nicht mit mir habe ich geschrien und ihm gleich eine gescheuert. Damit war das Tanzen beendet?! Sozusagen. Eine Schwester hat mich gleich auf mein Zimmer gebracht. Ich hätte es wissen müssen. Was? Tanzen ist für manche nicht ohne Hautkontakt möglich. Dies wiederum stellt für dich im Augenblick eher eine Gefahr dar. Ich lass mich doch nicht von jedem einfach so anfassen. Natürlich nicht. Entschuldige, ich habe unterschätzt, was passieren könnte. Wobei. Dies könnte eine gute Gelegenheit sein, über einen wichtigen Sachverhalt zu sprechen. Sagen Sie nicht, Sie wollen mir einen weiteren Vortrag halten. Ich dachte, ich bin bei Ihnen, um mich über wichtige Dinge meiner Vergangenheit zu sprechen. Das bist du auch. Und gleichzeitig möchte ich, dass du mehr und mehr verstehst, was in dir vorgeht. Zum Beispiel, warum gestern der durchgeknallte Typ etwas in dir ausgelöst hat. Es reicht doch, wenn man die Finger von mir lässt. Ist dies nicht zu einfach gedacht? Schließlich gibt es Menschen, deren Nähe dir sehr angenehm ist. Rot. Alwines unverwechselbare Duft steigt in mir auf. Ich sehne mich nach ihrer wohligen Nähe. Möchte mich in ihrer festen Umarmung verstecken. Ich sehe, du verstehst mich. Was hat dir deine Mutter über die Zeit deiner Schwangerschaft erzählt. Nichts. Ich kann mich nicht daran erinnern. Im Streit hat sie mir einmal an den Kopf geworfen, es wäre besser, wenn es mich nicht gäbe. Das will noch nicht sagen, dass du ungewollt warst. Genau dieses Gefühl hatte ich aber immer. Obwohl … Obwohl was? Ich erinnere mich dunkel an ein Foto in meinem Fotoalbum. Meine Mutter hat es mir irgendwann stolz überreicht. Ich muss sieben, acht Jahre alt gewesen sein. In ihm sind alle Fotos von meiner Geburt bis zur Einschulung. Stolz? Ja, sie hat gestrahlt, als sie es mir überreicht und mich herzlich umarmt hat. Sie hat geweint und wollte mich gar nicht mehr loslassen. Und was hat es mit diesem Fotoalbum auf sich? Erzähl! Ganz am Anfang ist ein Foto von meiner Mutter. Sie ist schwanger mit mir. Stolz zeigt sie ihren dicken Bauch. Ich halte inne. Noch etwas anderes fällt mir ein. Als ich klein war, hat sie viel Ärger mit meinem Bruder Paul gehabt. Eines Tages ist er, ohne die Hausaufgaben gemacht zu haben, einfach nach draußen zum Fußballspielen abgehauen. Da hat sie ihm hinterhergeschrien, sie hätte besser nur Töchter bekommen. Da ist sie. Wer? Deine andere Mutter. Es gibt sie doch. Dachte ich mir. Meinen Sie. Ich bin sicher. Wieso können Sie das sagen? Weil mir dies deine Reaktion gestern verrät. Wie? Schau! Darf ich etwas ausholen? Wenn es sein muss. Fassen Sie sich heute, wenn es geht, etwas kürzer! Ich werde es versuchen. Deine letzte Anmerkung bringt mich zu der Annahme, dass deine Mutter noch eine andere Seite hat. Eine, die du aus gutem Grund eher verbirgst. Sie ist wie sie ist. Vielleicht nicht immer schon. Ich bin sicher, sie hat sich damals über die Schwangerschaft mit dir gefreut. Das Heranwachsen eines Kindes ist für die meisten Mütter eine besondere und im wahrsten Sinne des Wortes wunderbare Erfahrung. Für das Kind aber auch. Es erlebt dieses Heranwachsen im Mutterleib als Schwebezustand in einer untrennbaren Einheit. Mit der Geburt wird diese Einheit jäh durchbrochen. Eine durchaus als traumatisch anzusehende Grunderfahrung des Neugeborenen. Darum ist vor allem der Hautkontakt der Mutter in den ersten Lebenstagen und Wochen wichtig, das Berührtwerden und Berühren. Es ist zudem entscheidend für die körperliche wie psychische Entwicklung. Durch den Hautkontakt hast du als Neugeborenes dich selbst und die Welt erfahren und gelernt, beides von einander zu differenzieren. Die Haut war in jenen Tagen sehr durchlässig für die wohltuende Nähe deiner Mutter, aber auch anderer Bezugspersonen. Was wir oft vergessen ist der Umstand, dass dies ein Leben lang so bleibt. Stell dir deine Haut wie eine dich umgebende feinporige Hülle vor. Sie ist nach beiden Seiten hin durchlässig. Sie atmet die Welt ein und aus, wie ich zu sagen pflege. Alles, was von außen auf uns zukommt, muss durch sie hindurch. Aber nicht alles, was uns nahekommt, ist letztlich gut für uns. Zu viel Sonne kann unserer Haut schaden und einen Sonnenbrand verursachen. Das kenne ich nur zu gut. Sehr unangenehm. Wir lernen im Laufe der Jahre, uns vor unangenehmen Einflüssen zu schützen. Manche bekommen eine dicke Haut, wie man sagt. Dass wir uns in unserer Haut wohlfühlen, hängt viel und zu allererst damit zusammen, ob wir uns alles Schädliche vom Halse halten können. Traumatische Erfahrungen sind Übergriffe. Erfahrungen, die abrupt in uns eindringen und nur schwer wieder den Weg aus uns finden. Deine gestrige Reaktion zeigt mir ein gesundes Selbstempfinden. Deine Mutter und du ward eine gute Einheit. Mit ihr hast du wichtige Grunderfahrungen machen können. Was dir wiederum gestern ermöglicht hat, dich abzugrenzen. Und ich dachte, irgendetwas wäre an mir nicht in Ordnung. Ganz und gar nicht. Sei achtsam im Umgang mit Nähe und respektiere, was deine Haut dir zu sagen hat. Zum Beispiel eine Gänsehaut zu bekommen, kann heißen, dass du frierst. Es kann dir aber auch zeigen, dass gerade etwas geschieht, was unangenehm ist, dass deine Innenwelt und die Welt um dich herum nicht im Einklang miteinander sind. Was Sie sagen, ist sehr hilfreich für mich. Ich neige dazu, mich selbst in Frage zu stellen, wenn andere mir nahekommen wollen und sich im gleichen Moment etwas in mir dagegen sträubt. Nochmals zurück zu deiner Mutter. Sie wollen mir aber nicht sagen, dass ich mir mein Gefühl, mich von ihr distanzieren zu müssen, nur einbilde. Dies kann und will ich nicht. Lediglich möchte ich dich bitten, eine erweiterte Sicht auf deine Mutter zuzulassen. Bei allem ist nicht zu leugnen, dass sie dir Dinge zugemutet hat, die du als übergriffig erlebt hast. Wir werden sehen. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass ich sie je zur Heiligen erklären werde. Das wäre auch unrealistisch. Wir alle haben doch unsere dunklen Seiten. Sie sicher nicht. Und ob. Aber davon werden Sie mir nichts erzählen. Sie schüttelt den Kopf. Dennoch würde ich mich so schnell wie möglich meiner Schattenseiten entledigen. Hab Geduld! Ich bin keine Chirurgin. Meine Aufgabe ist es nicht, alles Unbrauchbare aus dir herauszuschneiden. Und warum bin ich dann hier? Rot. Diese Frau bringt mich zur Weißglut. Frida! Je achtsamer du im Umgang mit dir wirst, dich wie gestern nicht einfach von anderen überfahren lässt, je wacher du wahrnimmst, was gerade geschieht, umso näher kommen wir dem Tag, an dem du vielleicht nicht all deine Dämonen vertreiben, sie jedoch in dir so einsperren kannst, dass sie fortan keinen größeren Schaden mehr anrichten werden. Ich sehe sie ungläubig an. Vertraue mir! Das fällt mir gerade nicht leicht. Ich nehme etwas anderes wahr. Vor mir steht eine Person, die spontan sagen kann, was sie fühlt. Eine gute Grundlage für alles andere. Vertraue dir! In dir steckt wirklich mehr, als du ahnst.