Frau Doktor empfängt mich mit einem Lächeln. Dein Shirt ist etwas schrill, aber es gefällt mir. Die Farbe erinnert an das Leuchten eines Papageis. Es verleiht mir Flügel. Dann lass uns keine Zeit verlieren. Wir verlassen das Anstaltsgelände. Bevor wir unseren Schritt beschleunigen, möchte ich dich mit einem tieferen Geheimnis des Laufens vertraut machen. Laufen ist für mich nicht einfach eine Art der Fortbewegung. Es ist ein spirituelles Ereignis. Mit jedem Schritt, den ich mache, bewegt sich gleichsam etwas in mir. Vielleicht hast du schon einmal etwas von dem Zusammenhang zwischen der Entwicklung unseres Sprechens und dem aufrechten Gang gehört. In dem Augenblick, wo wir uns zum ersten Mal als Kind aufrichten und unsere ersten zaghaften, mit gemischten Gefühlen einhergehenden Schritte wagen, vollzieht sich in uns geradezu eine explosionsartige Entfaltung unserer Sprache. Gehen lernen heißt sprechen lernen. Es ist nicht von ungefähr, dass Ordensbrüder in den Wandelgängen ihres Klosters ihre Runden drehen. Stecken wir mit unseren Gedanken fest, finden keinen Ausgang aus dem Labyrinth immer gleicher Eingebungen, so kann es wahrhaft befreiend sein, sich auf den Weg zu machen. Ich würde eigentlich gerne loslegen. Einen Augenblick noch. Ich möchte, dass du in den kommenden Minuten ganz bewusst in dich hineinhörst, deinen Körper, die Atmung, jeden Muskel spürst und gleichzeitig deine Gedanken schweifen lässt. Beobachte dich und sieh, was in dir passiert! Nun kann es losgehen. Wir beginnen in mäßigen Tempo, bis Kreislauf und Muskulatur in Schwung sind. Später werden wir das Tempo etwas beschleunigen. Auf den ersten Meter spüre ich, wie sich die Muskulatur in den Waden zusammenzieht. Ich bin geneigt anzuhalten, will mir aber nicht gleich die Blöße geben. Mein Ehrgeiz ist geweckt. Nach einiger Zeit werden meine Schritte leichter. Ich atme gleichmäßig ein und aus, kann aber nicht verhindern, dass ein leichtes Schnaufen zu hören ist. Frau Doktor setzt unbeirrt von meiner Gegenwart ihre eigenen Schritte. In meinem Kopf kreisen die Gedanken. Ich lasse die letzten Tage an mir vorübereilen. Zunächst kein Verweilen, kein längeres Anhaften. Es fühlt sich angenehm an. Wie geht es dir? Prima. Gelöst, frei. Nichts scheint daran etwas ändern zu können. Einfach wunderbar. Halte nun, ohne weiter über deine Fortbewegung nachzudenken, das Tempo! Vertraue deinem Köper! Was kommt jetzt? Sie sagen das doch nicht ohne Hintergedanken. So gut kenne ich Sie mittlerweile. Ihre Worte sind stets ausgewählt, mit Bedacht gesetzt. Du hast mich einmal mehr durchschaut. Nun gut, wenn du bereit bist, dann würde ich dich gerne zu einer kleinen Übung einladen. Ich bleibe abrupt stehen. Nicht stehenbleiben! Alles was nun kommt, soll eine Erfahrung werden, die du laufend meisterst. Bist du bereit? Neugier lässt mich nicken. Ich nehme meinen Lauf wieder auf. Gut. Ich bitte dich nun, während des Laufens an etwas für dich sehr Unangenehmes zu denken. Es kann sein, dass deine Beine ganz spontan schwer werden, du innerlich den Impuls verspürst, stehenzubleiben. Lauf in jedem Fall weiter. Ich nehme wahr, wie sich ein Teil in mehr wehrt. Gleichzeitig bin ich gespannt, was passieren wird. Ich beginne, die Gedankenfetzen, die in mir aufsteigen, abzuwägen. Zu leicht. Gedanken um Gedanken lasse ich hinter mir. Nichts wird mich aus dem Tritt bringen, sage ich mir. Wie um mich selbst auf die Probe zu stellen, greife ich nun zu den schmerzhaftesten Erinnerung, Gedanken, die ich sonst unter allen Umständen zu vermeiden versuche. Rot. Schwarz. Meine Atmung wird schwerer. Die Beine schwer wie Blei. Nicht anhalten! Frau Doktor scheint die Veränderung bei mir intuitiv erspürt zu haben. Atme bewusst! Wortlos nicke ich. Eine Hitzewelle nach der anderen durchströmt meinen Körper. Ich wische mir die Schweißperlen von der Stirn. Ich gehe tiefer in meinen Erinnerungen. Rabenschwarz. Ein Stechen in der Brust. Ich schaue mich um. Gefühlt stehen wir schon seit geraumer Zeit. In Wirklichkeit bleibt mein Laufen von meiner inneren Hexenjagd unberührt. Ich schnappe einige Male nach Luft. Panik erfasst mich. Vergiss nicht auf deine gleichmäßige Atmung zu achten! Atme das Leben, Frische ein und atme alles Schwere aus! Lass es hinter dir! Ich folge ihrer Anweisung. Verwundert werde ich Zeuge einer inneren Veränderung. Nach einigen hundert Metern fühle ich mich wie neugeboren. Ich schwebe. Die Leichtigkeit beflügelt meinen Schritt. Als ich eine Stimme hinter mir undeutlich höre, bemerke ich, wie ich mich von Frau Doktor abgesetzt habe. Ich verlangsame meine Schritte, bis sie wieder aufgeschlossen hat. Ich dachte schon, gleich hebt sie ab. So frei habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Vielleicht noch nie in meinem Leben. Hab ich dir zu viel versprochen?! Ganz und gar nicht. Lass uns bis zur Schutzhütte dort vorne laufen und dann den Rückweg antreten! Auf dem Rückweg bitte ich dich, nochmals Kontakt zu den gleichen Gedanken aufzunehmen! Muss das sein? Ich möchte, dass du deine Erfahrung von gerade vertiefst. Ich bin bereit. Dann los! Wir werden auf dem Rückweg das Tempo leicht beschleunigen. Lass deinem Körper etwas Zeit, sich an die neue Herausforderung zu gewöhnen, bis du erneut auf dein Gedankenkarussell aufsteigst. Um mich etwas abzulenken, lasse ich meinen Blick abseits des Weges schweifen. Grün. Saftiges Grün mischt sich mit erdigem Ocker. Feuchter Waldboden dringt in meine Nase. Tannenduft gesellt sich dazu. Meine Flimmerhärchen beginnen zu vibrieren. Laufend sauge ich, hüpfe das Leben. Schwerelos vergesse ich für die Ewigkeit eines Augenblicks alles, werde eins mit modrigen Untergrund, in den meine Füße eintauchen und schwappend wieder hervorschnellen. Frida! Leihst du mir dein Ohr! Benommen schaue ich auf, verdrehe die Augen. Lächle, wie vor Jahren, als mir die Wirkung, der bis dahin unbekannten Kekse, ein breites Grinsen ins Angesicht malte. Wende dich nun nochmals deinem Gedankenkarussell zu! Immer wieder, solange bis du dich über alle Erscheinungen deines Schattenkabinetts erhoben hast. Es fällt mir schwer. Ich will verweilen. Die Aussicht, in weitere Höhen zu enteilen, lockt. Mein nächtlicher Gast nähert sich zaghaft meinem Bett. Rot. Kurzes Aufatmen, Schlucken. Was dann kommt, übersteigt alle Vorstellungskraft. Rot verwandelt sich. Blau kleidet mich spiralförmig ein. Ich spüre, wie sich etwas in mir löst. Etwas platzt auf. Ein Panzer, eine Schwere fällt von mir ab. Und gleichzeitig ist es, als würde sich Rot ausstrecken, sein eigentliches Wesen hinter sich lassen. Es ist noch da, doch anders. Die Symphonie der Farben gebiert Indigo.