Tut Buße!

95thesen_neuhochdeutsch_kl1_800

Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! Mt 4,17

Zum Reformationstag – eine kritische Würdigung der ersten These Luthers

Heute vor 500 Jahren schlug Martin Luther die 95 Thesen an die Schlosskirche von Wittenberg und hat mit seinen Gedanken, die die Menschheit bis heute maßgeblich verändert haben, ins Rad der Geschichte eingegriffen. Über das Wesen der Reformation ist in den letzten Jahren, der sog. Reformationsdekade, lange und ausführlich nachgedacht und diskutiert worden. Es begann 2010 offiziell mit dem Thema „Reformation und Bildung“, gedacht wurde hier in besonderer Weise dem 450. Todestag Philipp Melanchthons am 19. April und seinem Bildungsimpuls, Glaube solle gebildeter Glaube sein. In den folgenden Jahren bis zum diesjährigen Reformationsjahr standen weitere Themenschwerpunkte wie Freiheit, Musik, Toleranz, Politik und Bibel im Mittelpunkt.

Selbst für einen Theologen wie mich ist es nicht leicht, die Reformation, die weit über das Wirken Luthers hinausging, in ihrem Wesen und Hauptanliegen zu beschreiben. Zu vielschichtig ist all das, was in jenen bewegten Tagen geschah – gleichzeitig nicht ohne Widersprüche.

Luthers „95 Thesen über die Kraft des Ablasses“ sind in der Gesamtschau auf die Reformation eine Art Initialzündung für den Aufbruch in ein neues Zeitalter der Menschheitsgeschichte, das heute selbst Teil der Geschichte geworden ist. Seine Thesen waren Anregung und Aufforderung zugleich, über die in ihnen ausgesprochenen und entfalteten Themen „zu disputieren“.

Zweifelsohne sticht die erste These in besonderer Weise hervor. Sie markiert das Wesen einer erneuerten Existenz vor Gott. Luther nimmt Bezug auf den Beginn der Verkündigungszeit Jesu. Dieser stellt das Sein und Leben seiner Zuhörer in Frage und fordert zur Buße auf: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“
Interessanterweise tauchte das Thema Buße in der gesamten Reformationsdekade nicht als Thema auf – vielleicht ein Indiz dafür, dass evangelische Theologie seit längerem mehr um sich selbst kreist.
In der ersten These heißt es insgesamt: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: „Tut Buße“ usw. wollte er, daß das ganze Leben der Gläubigen ein Bußetun sei.“
In den 1518 veröffentlichen Stücken aus den Resolutionen heißt es erläuternd: Buße tun heißt, „einen anderen Geist und Sinn anziehen“, „klug werden“, „den Sinn und Geist wechseln“, damit wir „himmlisch gesinnt“ werden.

Zwischengedanke:
Es gehört wohl zu den bedauerlichen Entwicklungen der Menschheitsgeschichte Geist, Seele und Körper getrennt zu haben. Wen wundert, dass Theologie diesem gleichen Irrtum verfallen ist, man könne trennen, was untrennbar ist, mehr noch diese sei sogar theologische geboten, weil Gott ja immer schon der ganz Andere war. Wie bei Luther führte dies folgerichtig zu einer Trennung von Irdischem und Himmlischen. Und bei allen Versuchen der Theologie das Himmlische diesseitig zu verankern, ist die prägende Wirkung einer jenseitige Hoffnung bis heute zentraler Glaubensinhalt der Menschen. Kaum einer Pfarrerin oder einem Pfarrer wird es gelingen, selbst gestützt durch beste exegetische Erkenntnisse, dagegen anzupredigen. Für diese Entwicklung ist jedoch weder Luther noch andere reformatorische Theologen verantwortlich. Diese Trennung ist Teil der Kirchengeschichte von Anbeginn an – mit Ausnahme einiger weniger, zu denen, ich bin gewiss, auch jener Wanderprediger, Jesus von Nazareth, gehörte. Jesu hat in seinen Gedanken das irdische Sein nicht vom himmlischen getrennt. Er greift lediglich die damals übliche Vorstellung auf und deute sie um. Dazu später mehr.

Bleiben wir zunächst beim ersten Teil der ersten These. Buße tun, ist nach Luther ein innerer Erkenntnisprozess, in dem ich mein Sein und Leben vor Gott und den Menschen reflektiere. Mit Luther könnten wir sagen, lernt der Mensch aufs Neue, den Geist Gottes in sich wirken zu lassen. Er wendet sich ab von einer äußerlich irdischen Gesinnung hin zu einer inneren Geisteshaltung, in der Gott allein wirksam und mächtig ist. Jesu ist dabei der große Lehrmeister. Er ist wie eine Brücke, die uns den Weg von dem alten Sein in eine neue und andere Existenz aufzeigt; und dies in doppeltem Sinne: als Mensch, Lehrmeister und als Heiland, als Retter.
Ob Jesus sich selbst als Heiland der Menschheit gesehen hat, mag dahin gestellt bleiben. Für Luther, daran besteht kein Zweifel, war er dies. Luthers Kreuzestheolgie war ja eine wichtige theologische Gegenposition gegen den Ablasshandel und die damit verbunden Infragestellung dessen, was Luther als „sola gratia“ verstanden hat.

Was ist nun Buße in den Augen Jesu?
Die Knappheit seiner Worte, lässt vermuten, dass er davon ausgegangen ist, dass die Angesprochenen um die Bedeutung der Buße wussten. Die Aufforderung zur Buße kam somit einer Bekräftigung dessen gleich, was Johannes der Täufer in seiner Bußpredigt bereits hervorgehoben hatte. Für Jesus lag einiges im Leben der Menschen im Argen. Grund genug Buße zu tun und sein Sein neu zu orientieren. Dass er den Menschen gleichzeitig mit einem herannahenden Gottesgericht gedroht haben soll, gar die Endzeit heraufbeschwor, ist ein wiederkehrender Zug in der Kirchengeschichte, lag aber kaum in der Absicht des Wanderpredigers. Menschen zunächst in Angst und Schrecken zu versetzten, um ihnen dann aus dem Hut das Heil hervorzuzaubern, gehörte und gehört zum bewährten Handeln jener Menschen, die nicht wirklich am Seelenheil anderer interessiert sind, sondern eher das eigenen Machtgebahren im Blick haben.
Über die Notwendigkeit zur Buße, Geist und Sinn zu erneuern, sein Leben neu auszurichten, über diese Grundbefindlichkeit unseres Seins, in die wir immer wieder im Verlauf unseres Lebens hineingeraten, braucht nicht weiter nachgedacht werden. Sie ist so sehr mit unserem Sein verwoben, dass die aufrichtigste Buße zu keiner Zeit unseres Lebens etwas daran ändern könnte. Wir bleiben, wie Luther so trefflich formuliert hat „Sünder und Gerechtfertigte“ zugleich. Buße kann und wird nie den Übergang von einem Seinszustand in einen anderen bewirken können. Sie kann uns zurückführen, wieder auf den rechten Pfad, wie wir gerne sagen, zurückbringen.
Wäre sie mehr – gar ein Sakrament – dann müsste darüber nachgedacht werden, warum ihre Wirkung dennoch zeitlich begrenzt ist.

Die Bekräftigung Jesu „Ja, tut Buße, wie Johannes dies von euch gefordert hat.“ greift Luther in seiner ersten These zwar auf, lässt dabei den Nachsatz „denn dass Himmelreich ist nahe herbeigekommen“ fallen; „usw.“ muss dem kundigen Bibelkenner reichen. In seinen späteren Ausführungen (s.o.) zur ersten These breitet Luther vor allem die Dualität von Himmlischen und Irdischem, Fleischlichem und Geistigem aus. Das Fleisch und die damit verbundenen Begierden gilt es zu „kreuzigen“. Luther braucht das Festhalten an der Trennung zwischen Körper und Geist so sehr, um selbst Gottes Sein und Wirken unmissverständlich von allen irdischen Versuchen, Buße zu tun und dadurch Gerechtigkeit vor Gott zu erlangen, ein für alle Mal zu trennen. Allein der Glauben – und dieser wiederum auch nur als Geschenk Gottes – versetzt uns in den Stand der Gnade. Auch wenn Luther den Ablasshandel abgelehnt hat und damit eine damit käufliche Form der Buße, hat er die Aussicht den Qualen einer jenseitigen Hölle ausgeliefert zu sein, nicht an sich in Frage gestellt – wenngleich der Glaubende diese nicht mehr zu fürchten hat.

Mich rührt immer wieder der Umstand, mit welch einfachen Worten und Bildern Jesus den damaligen Menschen begegnet ist. Selbstkritisch muss ich anmerken, dass es genau zum redlichen Geschäft der Theologie gehört, dieses zu tun, lang und oft mit nicht so einfachen Worten, das auszuführen, was manche als die Grundwahrheit unseres Seins bezeichnen würden. Diese Ausführungen müssen stichhaltig und logisch sein und können doch nicht auf anerkannte Surrogate in ihren Formulierungen verzichten. Leider ist die Überlieferung der Worte Jesu in den vier Evangelien oft nicht mehr als kompensierter Ersatzstoff für das, was Jesu wirklich und ausführlicher gesagt und ausgeführt hat.

Wie nun also, wenn Jesus mit seinem Verweis, das Himmelreich sei nahegekommen, nur ein Ausrufezeichen hinter eine damalige Erwartung setzt, demzufolge der ersehnte Messias in Kürze kommen werde. Aber warum breitet der Evangelist Matthäus diesen Gedanken Jesu nicht weiter aus? Warum begnügt es sich damit, Jesus fast beiläufig zu zitieren. Buße und Himmelreich werden als zentrale Begriffe genannt, aber am Ende bleibt es dem Leser, den Theologen, den Predigenden, der Amtskirche überlassen, für ein rechtes Verständnis dieser Worte zu sorgen. Nebenbei bemerkt lag hier ein Grundinteresse der Alten Kirche, dass sich bis heute nicht wirklich verändert hat: Sie wählt aus Inhalten aus, verkürzt und gibt sich selbst die Auslegungshoheit – nicht ganz, protestantisch betrachtet, weil hier der Glaubende direkt vor Gott steht und sich bei seiner Bibellektüre seinen eigenen Reim machen kann.

Es darf berechtigter Weise gefragt werden, ob Jesus bei seinem Verweis auf das Himmelreich, das nahe herbeigekommen sei, etwas ganz anderes im Sinn hatte: die Überwindung einer gängigen Trennung zwischen Geist und Leib, Irdischem und Himmlischen. Ich bin sicher, dass er ihm gerade darum ging. Er wollte die Menschen aufs Neue dafür gewinnen, dass Gott nicht vom Menschen zu trennen ist. Er ist ein Teil von uns, wie wir ein Teil von ihm sind. Buße hieße folglich, sich erneut Gewissheit darüber zu verschaffen, dass Gott immer schon in uns ist, in jeder Zelle unseres Sein. Das Göttliche ist kein Gedankenkonstrukt, dass der Geist zu erfassen sucht. Es ist das Grundprinzip, dass in uns wohnt, vom ersten Tag unseres Sein. Dies können wir vergessen. Wir können es aus unserem Leben verdrängen. Dennoch bleibt es in uns.
Buße wäre damit nicht mehr und nicht weniger als unser Ja zu einem untrennbaren Sein Gottes in uns. Das Bewusstsein um diese Nähe Gottes in uns kann im Laufe unseres Lebens verloren gehen. Darum wusste Jesus und dies zu ändern, war eines seiner Hauptanliegen.

Die protestantische Unmittelbarkeit jedes einzelnen Menschen vor Gott, oder anders gesagt, die Unmittelbarkeit Gottes in uns, unser nicht von seiner Existenz in uns trennbares Sein  bleibt eine Herausforderung für jeden Menschen bis auf den heutigen Tag. Dies je neu in den Blick zu nehmen ist ein Akt der Buße, der Einkehr, die uns auf Neue zeigt, wo Gott längst ist: in uns. Dies ist keine rein gedankliche Erkenntnis, sondern eine ganzheitliche Erfahrung.

Die Trennung von Geist und Leib hat in der Geschichte vor allem jenen genutzt, die Hoheit dafür beansprucht haben, den „Ungläubigen“ zu sagen, wer Gott ist und was er von uns fordert.

Reformation ist und bleibt ein Akt der Buße, das Insichgehen und Gewahrwerden einer untrennbaren Verbundenheit mit Gott und allem was existiert hat und je sein wird. Wir sind Teil eines Lebensnetzes, dass uns untrennbar mit anderen verbindet, auch oder gerade dann, wenn wir glauben unser Leben dividieren zu können.

Reformation bleibt der fortschreitende Traum an das Leben. Dieser lässt uns nicht von einer besseren Welt träumen, sondern von der guten Welt in uns, die zum Vorschein kommt und dem Sein einen mystischen Glanz verleiht!

Thomas Reinhold Reppich Ellwanger

Cutipay, Valdivia, Chile, 31.10.2017

 

du hast mich geträumt gott
wie ich den aufrechten gang übe
und niederknien lerne
schöner als ich jetzt bin
glücklicher als ich mich traue

freier als bei uns erlaubt
hör nicht auf mich zu träumen gott
ich will nicht aufhören mich zu erinnern
dass ich dein baum bin
gepflanzt an den wasserbächen
des lebens

Dorothee Sölle